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Spezia

© dpa

NS-Vergangenheit: Schuldlos, aber nicht unschuldig

Italiens Justiz sühnte nach 60 Jahren ein SS-Massaker mit 770 Opfern. Auch der Berliner Max Schneider wurde verurteilt - zu Unrecht, sagt er. Kürzlich demonstrierten antifaschistische Initiativen vor seinem Haus in Mitte.

Keiner will neben einem Kriegsverbrecher wohnen. Schon gar nicht neben einem, der offensichtlich Mitschuld hat am Mord an mehr als 770 Menschen, der Handgranaten in Kirchen warf und Kinder unter ihren toten Müttern vorzog, um sie zu erschießen. Deshalb haben kürzlich antifaschistische Initiativen vor seinem Haus in Mitte protestiert. „In Ihrer Nachbarschaft lebt ein verurteilter NS-Kriegsverbrecher“, hieß es auf Flugblättern. So wollen sie Nachbarn aufklären, seinem über 60 Jahre währenden ruhigen Leben endlich ein Ende machen.

Der „antifaschistische Kiezspaziergang“ wurde vorzeitig von der Polizei beendet. Max Schneider ist aber seither kein Unbekannter mehr. Die Adresse des 82-Jährigen steht auf Dutzenden Seiten im Internet. Vielleicht fühlen sich die Nachbarn bestätigt, dass sie mit einem Mörder seit 50 Jahren unter einem Dach lebten, seitdem sie Schneider nicht mehr im Flur des Hauses sehen. Doch derzeit liegt Schneider im Krankenhaus – eine seit längerem geplante Operation. Ein zweites Mal in seinem Leben schützt ihn eine Krankheit. Heute vor der Vergangenheit, damals vor sich selbst.

Mit 17 meldet sich Schneider freiwillig zur Waffen-SS. Die Mutter will nicht, dass er geht, aber die SS nimmt 1943 Minderjährige auch ohne Einverständnis der Eltern. Die Ausbildung ist kurz, und Schneider kann schnell in den Krieg. „Ich wollte den Endsieg nicht verpassen und daher unbedingt an die Front. Mein Bruder war richtig böse, dass ich früher zum Einsatz kam“, erzählt er heute und scheint selbst verblüfft über seine damalige Naivität. Während der Grundausbildung wird er nach seinem Alter gefragt. Da ist er gerade 18 geworden. „Alt genug zum Sterben“, lautet die Antwort seines Ausbilders. Er wird Mitglied der „16. Panzergrenadierdivision Reichsführer SS Heinrich Himmler, das große Vorbild damals“, sagt er. Seit September 1944 werden sie an der Gotenlinie, der deutschen Verteidigungslinie in Norditalien, gegen die vorrückenden Amerikaner eingesetzt.

Das Massaker in der kleinen Apenninen-Gemeinde Marzabotto beginnt in den frühen Morgenstunden des 29. September 1944. Unter dem Kommando des SS-Obersturmbannführers Walter Reder werden Hunderte niedergemetzelt – vor allem Greise, Frauen, Kinder. Am nächsten Tag kehren sie zurück, um die zu töten, die zwischen den Leichenbergen überlebt haben. Fünf Tage dauert das Morden. Gesühnt wird das Massaker erst über 60 Jahre danach. Am 13. Januar 2007 werden zehn ehemalige SS-Soldaten vom Militärgericht im italienischen La Spezia zu lebenslanger Haft und 100 Millionen Euro Schadensersatz verurteilt. Unter ihnen auch Max Schneider, obwohl der beteuert, nicht dabei gewesen zu sein.

Dass er an dem Tag, an dem das Massaker begann, schon morgens verletzt wurde, bestätigen auch zwei Verlustmeldungen. Am 1. Oktober 1944 lag er bereits im Kriegslazarett 3/551 in Riva am Gardasee, 260 Kilometer entfernt vom grauenhaften Geschehen. So steht es auch in seinem Soldbuch. Er erinnert sich genau. Es war sein 19. Geburtstag. Von Schneider selbst existiert bis heute nur eine einzige Zeugenaussage, die er am 24. Oktober 2003 vor dem bayerischen Landeskriminalamt gemacht hat. Danach wurde ihm am Tag vor dem Massaker mitgeteilt, dass ein SS-Truppentransporter von Partisanen überfallen und alle Insassen getötet worden seien. Für den nächsten Tag wurde eine Vergeltungsaktion angekündigt. Dass es sich bei der Vergeltungsaktion um eine Vernichtungsaktion handeln sollte, sei den jungen SS-Soldaten verschwiegen worden.

Der Einheit gehören vor allem jugendliche, unerfahrene und leicht zu beeinflussende Rekruten wie Max Schneider an. „Wir waren die Feuerwehr“, berichtet er von seinen insgesamt fünf Monate dauernden Kriegseinsätzen. „Vor allem wir Jungen mussten vor und die Löcher in der Verteidigungslinie stopfen. Jeder Zweite wurde dabei erschossen.“

Schneider ist zum Zeitpunkt des Massakers Unterscharführer und damit an jenem kalten Septembermorgen verantwortlich für acht Männer. Zum Ausspähen ersteigt er einen Hügel, erkennt, dass sie bereits entdeckt wurden, gibt den Kameraden Zeichen, nachzukommen und Feuerschutz zu bieten. Dann fällt ein Schuss. „Noch während ich das Kommando mit meinem rechten Arm gab, wurde ich in die Schulter getroffen und schwer verwundet“, gibt Schneider zu Protokoll. In der Zeugenvernehmung steht weiter, dass er gerade von einem Sanitäter versorgt wird, als weitere Schüsse fallen: „Für uns war das Anlass genug, sofort zu verschwinden. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte in unserem Einsatzgebiet vollkommene Ruhe. Es fiel kein einziger Schuss.“

Nach Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung passt Schneiders Aussage sowohl zu der des mutmaßlichen Schützen Pietro Lazzari sowie zu der des Augenzeugen Julien Legoll vom 1. November 1944, der besagt, dass bereits vor Beginn des Angriffs der Deutschen die ersten Schüsse von Partisanen abgegeben wurden. Wenn diese Aussagen stimmen, wäre Schneider unschuldig.

Das Militärgericht in La Spezia hat diese Zeugenaussagen also entweder nicht gelesen oder einfach ignoriert. Es geht um 30 Minuten, die Schneider entweder zum Mörder machen oder seine Unschuld beweisen. Um die Zeit zwischen 8 Uhr, als die SS-Kompanie eintraf, und 8 Uhr 30, als sie die ersten Schüsse abfeuerten. 30 Minuten, die zwischen dem liegen, was die Zeugen sagen, und dem, was das Militärgericht in La Spezia zur Wahrheit gemacht hat. Nach dem Gerichtsurteil ist Schneider ein Mörder, nach Aktenlage wäre er jedoch unschuldig.

Im Fall Marzabotto hat auch die italienische Justiz Neuland betreten. Zum ersten Mal wurden keine Befehlshaber, sondern einfache Soldaten verurteilt, nur weil sie zu einer bestimmten Einheit gehörten. „Nach deutschem Recht ist solch eine Verurteilung ohne Nachweis der persönlichen Schuld rechtswidrig“, sagt Jan Heckmann, Schneiders Rechtsanwalt. „Auch die Verurteilung in Abwesenheit ist in Bezug auf ausländische Urteile nur bedingt anerkennbar, nämlich wenn der Beschuldigte angemessen mitwirken konnte bzw. verteidigt ist.“ Der deutschen Justiz reichen die Verdachtsmomente gegen Schneider jedenfalls nicht aus, um ein Verfahren zu führen. Deutschland wird ihn deshalb auch nie nach Italien ausliefern.

Schneider hat in La Spezia nie ausgesagt. Er habe überhaupt erst von dem Verfahren erfahren, als es längst lief. Schuld daran ist auch die langsame deutsche Justiz, die sich für das Vorverfahren so lange Zeit ließ, bis die Italiener den Prozess einfach eröffneten. Den Fall Schneider hatte da bereits eine italienische Pflichtverteidigerin übernommen, die ihren Mandanten jedoch nie kennengelernt hat. Laut Anwalt Heckmann suchte sie weder den Kontakt noch reagierte sie auf seine Schreiben. Selbst vor Ort, in La Spezia, wird dem Anwalt keine Akteneinsicht gewährt, auch die Gerichtsprotokolle darf er nicht einsehen. Sein Auftreten vor Gericht wird nicht gestattet.

Max Schneider selbst erfährt erst Mitte Januar aus der Zeitung von dem Urteil. Vier Wochen später erhält er es per Einschreiben und versteht kein Wort. Es ist auf Italienisch. Für die teure Übersetzung des mehrere hundert Seiten langen Protokolls reicht die kleine Rente des ehemaligen Mechanikers, der immer in der DDR gelebt hat, nicht. Aus Sicht Heckmanns widerspricht der Prozess nicht nur den Grundsätzen des deutschen Strafverfahrens, sondern auch der Europäischen Menschenrechtskonvention, die ein faires Verfahren regelt, und das bedeutet eben auch, dass der Beschuldigte angehört und seine persönliche Schuld bewiesen werden muss. Aber gilt das auch für einen ehemaligen SS-Soldaten?

Der Prozess hat in Italien einen hohen Symbolwert. Es geht um Gerechtigkeit gegenüber denen, die gesehen haben, wie ihre Familien abgeschlachtet wurden und die deshalb bis heute kein normales Leben führen können, und um Genugtuung gegenüber den Tätern, die dieses normale Leben bis heute ganz unbehelligt führten. Nicht zuletzt geht es auch um die Aufarbeitung der Vergangenheit zweier Völker.

Über 60 Jahre hat Schneider geschwiegen. Auch von seinem bisher einzigen Gespräch mit der Presse, mit dem Tagesspiegel, hat ihm sein Anwalt abgeraten. Schneider aber will reden, er wiederholt immer wieder, dass er nicht dabei gewesen, dass er unschuldig sei. Aber was bedeutet Unschuld in seinem Fall? Hätte er mitgemacht? „Ich möchte gar nicht darüber nachdenken“, sagt er, und es scheint, als hätte er das in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht getan. Zu seinen ehemaligen Kameraden habe er nie wieder Kontakt gehabt, ihn auch nicht gesucht.

Im dunklen Jackett und gestreiften Hemd ist er das, was man eine gepflegte Erscheinung nennt – durchschnittlich, typisch. Ein ganz normaler alter Mann eben, der vielleicht nur zufällig zur falschen Zeit geboren wurde? „Ich bin nicht stolz auf die Zeit. Aber damals dachte ich: Das ist der richtige Weg“, sagt er stockend. Doch dann fügt er hinzu: „Dass man so hinters Licht geführt werden kann.“ Auf die Schuldfrage angesprochen, ändert sich sein Ton, wird unpersönlich. Aus „ich“ wird „man“, aus der Einzel- eine Kollektivschuld, hinter der er sich besser verstecken kann.

So war das eben damals, vermittelt seine Haltung. Auf jede Nachfrage dieselbe Erklärung: Die Zeit, die Umstände, die Jugend, die anderen. Was er empfand, als für ihn mit der Verletzung der Krieg plötzlich zu Ende war? „Das Schlimmste war damals das Gefühl, dass ich lebe. Diese Schmach …“, sagt er.

Heute ist die Verwundung sein größtes Glück. Wahrscheinlich hätte auch er getötet. Nur der Zufall wollte, dass er nicht zum Mörder wurde. Spricht ihn dieser Zufall frei von Schuld? Juristisch wäre es zwingend. Moralisch längst nicht.

Stephanie Puls

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