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Gar nicht obdachlos. Markus W. hat eine kleine Wohnung, arbeitet fünf Tage die Woche und will keine Almosen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Obdachlosenzeitungen in Berlin: Schon wieder so einer

Viele Leute sind genervt, wenn Markus W. in die Bahn einsteigt. Er verkauft Obdachlosenzeitungen – doch das lohnt sich immer weniger. Großfamilien drängen in das Geschäft, und arme Rentner hoffen auf ein paar Euro extra. Ein Straßenreport.

Auf den ersten Blick sieht Markus W. nicht wie einer aus, der Hilfe benötigt. Nicht wie einer, der sich ein Zubrot verdienen muss. Der es nötig hat, die Straßenzeitungen „Motz“ oder „Straßenfeger“ anzubieten. Nicht wie ein Obdachloser eben.

Der schmächtige 47-Jährige mit dem grauen Filzhut, der aufgrund einer Erkrankung zum Frührentner wurde, achtet peinlich darauf, dass seine Kleidung stets sauber ist. Dass die Fingernägel keine schwarzen Ränder haben. Dass er höfliche Umgangsformen wahrt, selbst wenn er von seinen Mitmenschen angepöbelt wird, was in letzter Zeit häufiger vorkommt, wie er erzählt. Markus W. spricht leise mit einem leichten süddeutschen Akzent. „Das lässt sich auch nach 16 Jahren Berlin nicht so leicht abschütteln“, sagt er und lächelt fein, bevor er in die einfahrende S-Bahn springt. Zuvor hat er sich vorsichtig umgesehen, ob nicht in der Nähe ein Ordnungshüter steht. Denn der Verkauf von Straßenzeitungen auf Bahnöfen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln wird bestenfalls geduldet, erlaubt ist er nicht. Und Markus W. ist einer, der jeder Form von Ärger aus dem Weg gehen möchte. Nicht einmal auf den zweiten Blick sollen selbst geschulte Sicherheitskräfte erkennen, dass Markus W. unter seiner cremefarbenen Jacke einige Zeitungen versteckt.

„Einen schönen guten Tag, meine Damen und Herren. Ich bitte um Entschuldigung für die Störung. Ich verkaufe die neue Ausgabe des Straßenfegers mit dem Thema Orte. Die Zeitung unterstützt Obdachlose und so arme Teufel wie mich. Und sie kostet 1,50 Euro. Neunzig Cent davon gehen an mich. Da ich aufgrund einer Gehirnhautentzündung zum Invaliden wurde, wäre es sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mich durch den Kauf einer Zeitung oder durch eine kleine Spende unterstützen würden. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen guten Tag.“

Während der 47-Jährige in der ruckelnden S-Bahn auf und ab geht, den Stapel mit den Zeitungen vor den Bauch gepresst, erwidert kein einziger Fahrgast seinen Blick. Keiner möchte für 1,50 Euro die neueste Ausgabe der Straßenzeitung kaufen. Umständlich nestelt ein gepflegter Herr an seiner teuren Aktentasche herum; auf dem brauen Leder prangen die Initialen eines französischen Luxuswarenherstellers. Markus W. bleibt kurz stehen, wartet, hofft. „Straßenfeger? Einen Straßenfeger, der Herr?“ Doch der Mann zieht nur seinen iPod aus einem Innenfach, die Tasche schnappt wieder zu. Das Gesicht wendet sich demonstrativ desinteressiert zum Fenster. Nicht mal ein Kopfschütteln hat er für Markus W. übrig. „Für die meisten Menschen sind wir einfach Luft“, sagt der blasse Verkäufer. Er nennt es die neue soziale Gleichgültigkeit. Etwas enttäuscht schlurft er weiter. In diesem Abteil wird er wohl keine Ausgabe mehr los.

Markus W. hat die Erfahrung gemacht, dass die Toleranz der Fahrgäste immer geringer wird. „Die meisten sind genervt“, stellt er sachlich fest. Denn die Zahl derer, die in den S- oder U-Bahnen Straßenzeitungen verkaufen, betteln oder Musik machen, habe inflationär zugenommen. „Besonders durch Rumänen, die teilweise gut organisiert durch die Bahnen ziehen, ist die Situation für uns mobile Zeitungsverkäufer viel schwieriger geworden“, meint Markus W. „Die machen uns das Geschäft richtig kaputt“, poltert er plötzlich. Während die herkömmlichen Verkäufer eher Einzelgänger sind, die oft nur wenige Ausgaben erwerben, um sie anschließend öffentlich anzubieten , treten die neuen Verkäufer meist in größeren Gruppen auf. Sie verkaufen die Sozialzeitungen gleich stapelweise und verteidigen ihr jeweiliges Revier notfalls mit Nachdruck. Davor hat Markus W. Respekt.

Straßenzeitungen funktionieren nach einem einfachen Prinzip: Hilfe zur Selbsthilfe

Dass die Straßenzeitungen längst nicht mehr nur von Obdach- und Arbeitslosen verkauft werden, ist in der Szene kein Geheimnis. Längst hat sich das Geschäft auch zum Einkommensmodell für Einwanderer aus Osteuropa und für ärmere Rentner entwickelt. Bei der Ausgabe von Straßenzeitungen wird nicht zwischen Verkäufern unterschieden. „Am Ende des Monats, wenn das Geld knapp wird, ist der Andrang von Menschen, die Straßenzeitungen verkaufen wollen, besonders groß“, bestätigt Samir Bouallagui. Der 33-Jährige ist Leiter der Notübernachtungstelle im Prenzlauer Berg. Gerade hilft Bouallagui an der Ausgabestelle des Straßenfegers hinterm Bahnhof Zoo aus, wo Markus W. jeden Morgen seine neuen Ausgaben abholt. Ein kleiner Wohnwagen in der Jebenstraße dient ihm als mobiles Büro. Der Sozialarbeiter und gelernte Bürokaufmann Samir Bouallagui über den wachsenden Konkurrenzkampf auf der Straße: „Die Zahl der Niedrigverdiener nimmt zu, die Zahl der Einwanderer ebenso“, sagt er, der seit 2007 Obdachlosen hilft.

Dass die Rumänen für alles verantwortlich gemacht werden sollen, will Andreas Düllick, Chefredakteur des Berliner Straßenfegers, der 14-täglich im Wechsel mit der Motz erscheint und immerhin monatlich noch bis zu 40 000 Zeitungen verkauft, nicht stehen lassen. Natürlich gebe es unter den rund 1600 eingetragenen Verkäufern des Straßenfegers, die eine sogenannte Selbstverpflichtungserklärung unterschrieben haben, auch Rumänen und viele andere Osteuropäer. Beim Straßenfeger wie auch beim Straßenmagazin Motz dürfe schließlich jeder verkaufen, der bereit ist, sich an die Regeln zu halten. Und die wären? „Nicht betteln, nicht im berauschten Zustand verkaufen, die Zeitungen müssen sauber sein ...“, zählt Düllick auf. Wer sich nicht daran hält, werde vom Verkauf ausgeschlossen. Auch die beklagte soziale Kälte gegenüber den Verkäufern möchte Düllick differenziert betrachten. „Das Klima in der Stadt hat sich einfach verändert“, gibt der Journalist zu bedenken. Die Zahl der in Armut lebenden Menschen nehme zu. „Viele Leute leben selber zunehmend in prekären Verhältnissen. Die sind gestresst und weisen deshalb auch andere ab.“ Gerade deswegen verschließe man sich Menschen aus Osteuropa nicht, „denn die benötigen auch Hilfe“. Das Gerücht von Banden, die durch Berlin ziehen, hält Düllick für überzogen. Oft handele es sich um Großfamilien, die ihre Arbeit untereinander aufteilen, wobei der Chefredakteur klar eine Grenze zieht: „Kinderarbeit geht gar nicht, dagegen muss man etwas unternehmen, das darf man nicht tolerieren.“ Doch wie? Wer die Straßenzeitungen an den Ausgabestellen gekauft hat, kann sie an andere zum Weiterverkauf abgeben.

Straßenzeitungen funktionieren nach einem einfachen Prinzip: Hilfe zur Selbsthilfe. Beim Straßenfeger seit 15 Jahren. Bei der motz seit 18 Jahren. Doch wie lange werden die Verkäufer ihrer Arbeit im öffentlichen Raum ungehindert nachgehen können? Während einerseits die Armut steigt, wächst andernorts der Wohlstand, die Zahl der privaten Wachdienste nimmt stetig zu. Selbst Parkplätze und Bürgersteige werden zuweilen zu verbotenen Zonen für jene, die Straßenzeitungen verkaufen wollen. Für solche, die betteln, ohnehin. „Wir wehren uns gegen die Vertreibung bedürftiger Menschen“, sagt Chefredakteur Düllick, der den Verkauf von Straßenzeitungen auch als Demonstration versteht. Seht her, wir sind da! Auch arme Menschen haben ein Recht auf ihren Platz mitten in der Gesellschaft.

Markus W. hat schwierige Phasen hinter sich

Markus W. arbeitet an sieben Tagen in der Woche. Immer von 8 bis 13 Uhr verkauft er abwechselnd die Motz und den Straßenfeger. Im Sommer wie im Winter. Unter seinen Kollegen lebt er in einer privilegierten Situation: Im Gegensatz zu den geschätzten 10 000 Wohnungslosen in Berlin insgesamt hat er ein festes Dach über dem Kopf. Eine kleine Einzimmerwohnung in Reinickendorf, die rund 250 Euro Miete warm kostet, von 412 Euro Frührente insgesamt. Schätzungen von Sozialverbänden zufolge leben 2000 bis 3000 Menschen durchgehend auf der Straße, für sie ist der Verkauf der Zeitungen überlebenswichtig. Viele sind krank, psychisch wie physisch, und bräuchten eigentlich erst einmal Hilfe. Andere sind verschuldet. Doch das Misstrauen vieler Bedürftiger gegenüber den Behörden oder ihre Unfähigkeit, sich von diesen helfen zu lassen, ist groß. Etliche haben eine Karriere im Rauschmittelkonsum hinter sich, oder sie stehen aktuell unter dem Einfluss von Drogen, was den Regeln der Herausgeber von Straßenzeitungen nach eigentlich ein Ausschlusskriterium ist. Doch wer möchte so etwas kontrollieren? Und wie? „Wir haben ja keine Verkäuferpolizei“, sagt Chefredakteur Andreas Düllick.

Markus W. hat ebenfalls schwierige Phasen hinter sich: eine von Missbrauch geprägte Kindheit, wie er sagt, zwei abgeschlossene Ausbildungen zum Maler sowie zur Postdienstleistungsfachkraft, jahrelange Jobwechsel, gefolgt von wiederholter Arbeitslosigkeit, persönliche Schicksalsschläge. Als Folge die Sucht. Irgendwann folgte die Einweisung in die Psychiatrie. Auch er ist im Methadonprogramm, welches er demnächst abgeschlossen haben will. Für Markus W. ist der Verkauf von Straßenzeitungen mehr als nur eine Einkommensquelle. „Ich verkaufe ja etwas, das einen Wert hat. Es geht mir nicht um Almosen. Und ich möchte meine Arbeit auch gut machen, denn ich repräsentiere ja damit auch meinen Arbeitgeber.“ Zudem sind seine Tage jetzt strukturiert. „Es kann Katzen und Hunde regnen, ich bin jeden Tag da“, sagt er mit einem verhaltenen Lächeln. Ab und zu erfüllt ihn seine Arbeit auch mit Stolz.

Nach zwei erfolglosen Stunden hält Markus W. immer noch zwei Ausgaben in der Hand. Dann wendet sich das Blatt unerwartet. Kurz vor dem Ostbahnhof drückt ein Fahrgast Markus W. ein paar Cents in die Hand. Warum hat er das gemacht? „Er begegnet mir öfter auf meiner Fahrstrecke“, sagt Reinhold Kosner. „Und es fällt mir jedes Mal auf, wie höflich er seine Zeitungen anpreist.“ Dieser Verkäufer sei nicht so aggressiv und vorwurfsvoll wie viele andere. Eine S-Bahn später hören zwei ältere Damen aus Bochum interessiert zu, als Markus W. seinen Spruch sagt. Mit einem Lächeln drücken sie ihm zwei Euro in die Hand. Für eine Kaffeepause, wie sie sagen. „Solche positiven Erlebnisse haben in letzter Zeit echt Seltenheitswert“, sagt Markus W. Überschwänglich bedankt er sich bei den Touristinnen, bevor die S-Bahn-Tür zuklappt.

Feierabend. Kassensturz: fünf verkaufte Zeitungen in fünf Stunden. Macht 7,50 Euro. Hinzu kamen Spenden. Die Gesamteinnahme sind 13,10 Euro. Keine gute Ausbeute für heute, an besseren Tagen gibt es doppelt so viel. „Aber besser als gar nichts“, sagt Markus W., und steigt in die S-Bahn, die ihn nach Hause bringt.

Alicia Rust

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