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Berlin: Ohne Pomp, sondern im Geiste der flirrenden, aufbruchverliebten Gegenwart, exzellent, bezahlbar, witzig

Gipsstr. 12, 10119 Berlin-Mitte, Tel.

Gipsstr. 12, 10119 Berlin-Mitte, Tel. 30 87 25 20, geöffnet: täglich außer sonntags ab 18, Küche ab 19 Uhr, Kreditkarten: alle gängigenElisabeth Binder

An der Wand des kleinen Gastraumes hängt etwas, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Dia-Leinwand. Auf den zweiten Blick ist es ein Werk des Malers Kasimir M. aus dem Jahr 1963 "Ohne Titel". Auf den dritten Blick entdecken wir in einem kleinen Regal am anderen Ende des Raumes einen Projektor. Da warten wir bereits auf den ersten Gang des Chaos-Menüs.

Man sollte denken, daß sowas nichts ist für gediegene Herrschaften aus Blankenese, daß man, im Gegenteil, dergleichen ganz dem jungen Szenepublikum überlassen sollte, das diese Gegend der Stadt ohnehin zuhauf bevölkert. Das kann man aber nicht, wenn man weiß, daß Peter Frühsammer der Patron ist. Der war im West-Berlin der 80er Jahre ein gefeierter und vielfach ausgezeichneter Küchen-Star. In seinem Restaurant an der Rehwiese ging es zeitweise geradezu furchterregend pompös zu.

Lange her. Der kleine Raum des Glückstein enthält zwei Tafeln mit jeweils zwölf Plätzen. In der Küche, die nicht größer sein soll als das Bild (oder die Dia-Leinwand), werden an jedem Abend zwölf Gänge gekocht. Man kann sie alle nacheinander probieren oder sich eine bestimmte Zahl heraussuchen. Von jedem Gericht gibt es jeweils nur kleine Portionen, aber von acht bis neun Gängen werde man ganz gut satt, lautete die Empfehlung des Patrons an diesem Abend. Am liebsten sei es ihm aber, wenn man sagt, was man gar nicht mag und die Auswahl der Gerichte ansonsten ihm überlasse. An dieser Stelle lernte ich etwas. In Blankenese sagt man nicht "Ich kann dieses neumodische Raukezeugs nicht ausstehen. " Nein, man sagt: "Ich habe eine Rucola-Allergie". "Ach", sagte der Patron mitfühlend zu meinem Begleiter, "da drüben sitzt ein Mann, der hat das auch. Bekommen Sie Ausschlag davon?" Sehr schick, solche Unterhaltungen.

Nach der Wende ging Frühsammer in die Mark Brandenburg, um Rinder zu züchten, und die Landluft muß ihm irgendeinen For ever-Young-Impuls gegeben haben. Er zelebriert seine alte Kunst nun in völlig anderer Form: ohne Pomp, sondern im Geiste der flirrenden, aufbruchverliebten Gegenwart, exzellent, bezahlbar, witzig. Die Weinkarte ist sehr klein, aber gekonnt sortiert, die Crew von einer Professionalität, die jedes Sterne-Restaurant schmücken könnte, und das angenehme Publikum ein sprechender Beweis dafür, daß die neuen Kreativos von überall her in die Stadt einfliegen.

Nouvelle goes Chaos - das geht natürlich nicht ganz ohne Haken ab. Um uns herum wurde einigen Paaren Bayrischcreme vom Räucheraal serviert. Darauf hatte ich auch Lust und keine Ahnung, ob ich sie wohl bekommen würde. Risiko-Menü könnte man das auch nennen. Blankenese mutmaßte mit hanseatischem Kaufmannssinn, daß "die nur mal zeigen wollen, mit wie wenig Personal man sowas machen kann. " Ich hingegen kam zu dem Schluß, daß ein Teil des Konzepts dem Absatz der Weine gewidmet ist. Auch wenn man, wie wir, nur sechs Gänge bestellt (60 DM), muß man ja fast so lange dort sitzen, wie es dauert, bis zwölf Gänge zubereitet sind. Also knabberte ich an den köstlich knusprigen Brotstücken und trank mehr von dem guten Grauburgunder Kabinett von Heger, als in diesem frühen Stadium ratsam gewesen wäre (47 DM).

Dabei hatte ich viel Gelegenheit, die erstaunliche Mischung aus heiterer Gelassenheit und hochzivilisiertem Defizit an urwüchsigem Bärenhunger zu beobachten, die meinen Begleiter nicht nur auszeichnet, sondern ihm auch half, den Warteteil des Abends mit so viel mehr Anstand zu überstehen als ich. Er fand das Glückstein eben auch sehr lustig: Chaos-Charme, den man von New York bis Blankenese versteht - das muß ja wohl ein Hit werden.

Irgendwann stellte sich heraus, daß sie uns schlicht vergessen hatten ("Deshalb heißt es ja Chaos-Menü"). Der Auftakt, "Räucherlachstartar mit winzigen Reibekuchen und Feldsalat", brachte dann allerdings auf Anhieb den Beweis, daß man aus einem Allerweltsvorgericht ein Miniatur-Kunstwerk machen kann. Dann kam ich irgendwann sogar doch noch zu meiner Aalcreme und einigen weiteren absolut erinnerungswürdigen Köstlichkeiten. Was serviert wird, überschreitet die Größe eines Amuse Gueules nur geringfügig. Vor allem aber unterschreitet es nicht die Qualität eines solchen in einem Star-Restaurant. Lauter Miniportiönchen zum Naschen und unglaublich gut. Die Petersiliensuppe - ein Gedicht in flüssig. Das Seezungenfilet auf Mangold mit Pied de Mouton - ein Gesang an das Meer. Schließlich die Kaninchenleber mit Linsen und Kartoffelpüree - die überzeugendste Kur gegen alle möglicherweise vorhandenen Leber-Allergien. Hätte ich normalerweise nie bestellt, stand übrigens auch gar nicht auf der Menükarte des Abends. Zum Nachtisch gab es ein Orangengelée mit Teeschaum und meinerseits das Bedauern, nicht doch neun Gänge geordert zu haben. Nächstes Mal.

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