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Berlin: Ohne Sprache, ohne Bewegung, ohne Mimik

Von Amory Burchard Zöhre Tas steht im Flur und spricht mit einer Mutter, die gerade ihr fünfjähriges Mädchen gebracht hat. Die junge Frau lächelt die türkischstämmige Erzieherin unter ihrem Kopftuch an, verabschiedet sich herzlich von ihr.

Von Amory Burchard

Zöhre Tas steht im Flur und spricht mit einer Mutter, die gerade ihr fünfjähriges Mädchen gebracht hat. Die junge Frau lächelt die türkischstämmige Erzieherin unter ihrem Kopftuch an, verabschiedet sich herzlich von ihr. „Sie war froh, dass ich nach drei Wochen wieder hier bin“, erklärt Zöhre Tas. Sie ist die Einzige von 13 Erzieherinnen in der Neuköllner Tagesstätte in der Fontanestraße, die Türkisch spricht. Von den 52 Kindern sind 41 „nichtdeutscher Herkunft“ – wie überall in Neuköllner Altbaugebieten. Die Mutter der kleinen Melissa (n der Kinder von der Redaktion geändert) berichtete, dass sich das Mädchen zu Hause beklagt habe, sagt Frau Tas. Wenn Zöhre nicht da sei, verstehe sie keiner in der Kita. „Sie spricht nur mit den Kindern Deutsch, aber nicht mit den Erziehern.“

Melissa gehört zu den Kindern, die ohne Deutschkenntnisse in die Kita kamen. Und das schüchterne Mädchen ist keines von denen, „die sich nach zwei, drei Monaten die Worte für den Alltag von den anderen Kindern holen.“ Kitaleiterin Manuela Saupe möchte, dass ihre fünf- bis sechsjährigen Vorschulkinder „bis zur Einschulung fehlerfrei sagen können: Wer bin ich, wie alt bin ich, wo komme ich her.“ Sie sollen ihre Wünsche formulieren und Gefühle ausdrücken können. „Ich bin traurig, ich bin fröhlich“ – und warum das so ist.

Wenn sie in der Kita Fontanestraße eine „Projektwoche“ machen, geht es nicht um das Leben der Ritter oder um Hexen und Zauberer. Das, sagt Manuela Saupe, sei etwas für Zehlendorfer Kitakinder. „Zu abgehoben“ für Neuköllner Kids. Für sie ist es schon ein Projekt, ihren Erzieherinnen zu zeigen, wo sie wohnen, vor ihrer Haustür fotografiert zu werden und hinterher ihre Wohnung und ihre Familie zu malen. Auf große bunte Pappen haben Kinder und Erzieherinnen das Ergebnis geklebt. „Viele Kinder“, sagt Frau Saupe, „kommen mit uns zum ersten Mal aus ihrem Kiez heraus und fahren mit der U-Bahn in den Zoo.“

Wird Melissa beim Einschulungstest ganze Sätze auf Deutsch bilden können? Ihre Erzieherinnen arbeiten daran, dass sie und die anderen Kinder es noch lernen. Marianne Heide und Britta Ernst haben sieben Vorschulkinder für ein kleines Verkehrstraining in ein Zimmer zusammengeholt. „Wir wollen darüber sprechen, wie man über die Straße geht“, sagt Britta, wie die Kinder sie nennen dürfen, mit betont deutlicher Aussprache. „Rot nisch laufen“, ruft ein Junge. Marianne Heide verbessert ihn nicht sofort. Das Kind aus einer türkischen Familie soll nicht eingeschüchtert, sondern ermuntert werden, mehr Deutsch zu sprechen.

Bei Ahmed klappt es besser als bei Melissa. An der improvisierten Bordsteinkante sagt sie nur ganz leise: „Kein Auto“ und geht dann an der Hand der Erzieherin über die Straße. In den nächsten zwanzig Übungsminuten wird Frau Heide noch ein paar Mal sagen: „Bei Rot dürfen wir nicht rübergehen.“

Der fünfeinhalbjährige Ahmed, der Probleme mit der deutschen Grammatik und mit den Zischlauten hat, kam erst vor einem knappen Jahr in die Fontanestraße – und konnte kein Wort Deutsch. Zuerst, sagt Marianne Heide, spielte er nur mit den türkischen Kindern. Es gab ja genug. Dann aber freundete sich Ahmed mit einem kleinen Kosovo-Albaner an. Der ist schon länger in der Kita, kann viel besser Deutsch. „Gezwungenermaßen“ begann auch Ahmed zu sprechen. Jetzt spielen die beiden Memory. „Ich hab viele“, triumphiert Ahmed und fordert von Nexhep: „Zeig, Mann!“ Der will weiterspielen und sagt: „Jetzt bist du dran.“ Dass die Kinder von ihren Eltern kein Deutsch lernten, sei kein Problem, sagt Manuela Saupe. Die würden ihnen ohnehin nur Fehler beibringen. Hauptsache, sie schickten ihre Kinder frühzeitig in die Kita.

Bildungseinrichtungen sollen die Berliner Kindertagesstätten werden, hat Schulsenator Böger jetzt nach den verheerenden Ergebnissen der Sprachstandsprüfung in den Innenstadtbezirken gefordert. Von Erziehern soll mehr gefordert werden. Böger will festlegen, was Kinder in der Kita lernen müssen. Deutschvermittlung soll fester Bestandteil der Erzieherausbildung und der Arbeit in der Kita werden. „Wir sind schon eine Bildungseinrichtung“, sagt Marianne Heide. „Es wird bloß nicht anerkannt.“ Sie wurde von ihrer Chefin zu Fortbildungen in „kreativer Sprachförderung“ geschickt und erlernte den „Bärenstark“-Sprachstandstest und das Trainingsprogramm des Landesschulamts.

Die von den Erzieherinnen ermittelten „Bärenstark“-Testergebnisse in der Fontanestraße seien nicht besser als im Berliner Schnitt, gibt Kitaleiterin Saupe zu. „Aber jetzt kennen wir die Defizite der Kinder und können sie individuell fördern.“ Defizite hat auch die jetzt vierjährige Miriam. Mit zwei Jahren brachte ihre deutsche Mutter sie in die Kita. „Sie hatte keine Sprache, keine Mimik, lächelte nicht.“ Miriam habe in den ersten Monaten nur auf dem Schoß einer Erzieherin sitzen wollen. Sie wusste offensichtlich nicht, wie sie sich bewegen sollte, kannte keine Spiele. Ein vernachlässigtes Kind. Heute puzzelt Miriam gemeinsam mit einem türkischstämmigen Mädchen: „Das kommt da rein“, sagt sie und ergänzt die Fassade des Bauernhauses. „Und was ist das hier?“, fragt Manuela Saupe. „Eine Kanne.“ – „Ja, richtig, eine Milchkanne.“ Draußen regnet es. „Von Blumen kommt das Regen“, erklärt Miriam.

Kurz darauf tobt das Mädchen, das vor zwei Jahren gerade einmal laufen konnte, mit drei Jungen durch das Turnzimmer. Aneta Keita und ihre Problemkinder sind mitten im Wahrnehmungstraining – „kreative Sprachförderung“ inklusive. Die Kleinen klettern auf einen Matten-Berg, springen herunter, sollen kurz gerade stehen, dann über eine Stuhlreihe steigen, durch einen Stofftunnel kriechen und sich auf einem Rollbrett an einem Seil entlang hangeln. Frau Keita ermuntert die Kinder, das Rollbrett nicht einfach an sich zu reißen, sondern zu sagen: „Ich möchte jetzt fahren.“ Miriam sagt’s und bekommt das Brett ohne Probleme von Tobias. Der springt lieber vom Berg und ruft dabei. „Guck mal, was ich kann.“

Aus einem Raum kommen ganz andere Töne. Zöhre Tas sitzt mit einer Gruppe am Boden, singt mit ihnen – „Türkisch AG“ für alle. Es gibt auch deutsche Kinder, die können schon ganz gut türkische Lieder singen.

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