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In Behandlung. Auf dem Bild sieht man eine Patientin bei der Chemotherapie in einem Berliner Krankenhaus. Weniger als zehn Krebspatienten der Charité haben sich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert.

© IMAGO

Onkologen warnen: Krebs ist tödlicher als Corona-Infektionen

Zurzeit werden zu wenige Neuerkrankungen diagnostiziert. Werden Tumore zu spät entdeckt, sinken die Heilungschancen.

Nehmen wir an, jemand fühlt sich insgesamt schwach, hat in letzter Zeit einiges an Gewicht verloren, nachts schwitzt er oder sie ziemlich oft auf unangenehme Weise. Und der Stuhlgang sieht vielleicht auch noch merkwürdig schwarz aus. In normalen Zeiten würde dieser Mensch jetzt zum Arzt gehen, mit seinen, wie der Mediziner das nennt, „unklaren Symptomen“. Doch zurzeit ist nichts normal: In Zeiten der Covid-19-Pandemie gehen die meisten nicht mal eben zum Arzt. Aber das könnte schwere Folgen haben – beispielsweise dann, wenn es erste Symptome einer Krebserkrankung sind.

Es ist ja nicht so, dass weniger Krebs entsteht

„Wir machen uns Sorgen, weil die Zahl der Patienten, die mit Neuerkrankungen in frühen heilbaren Tumorstadien vorgestellt werden, in den letzten Wochen stark zurückgegangen ist“, sagt Ulrich Keilholz, Leiter des Comprehensive Cancer Centers (CCCC) der Charité. „Denn es ist ja nicht so, dass weniger Krebs entsteht. Wir haben die Befürchtung, dass wir dadurch in einigen Wochen bis Monaten vermehrt Patienten mit Tumoren in fortgeschrittenen Stadien sehen werden. Bei einer Reihe von Krebsarten würde das intensivere Therapie und geringere Heilungsrate bedeuten,“ sagt Keilholz.

Praxen müssen strenge Regeln einhalten

Einerseits würden Patienten mit unklaren Symptomen wohl Arztbesuche einfach vermeiden, andererseits funktioniere auch die Frühdiagnostik, also die normale Untersuchungskette über Haus- und Fachärzte nicht normal. So stünden etwa weniger Termine zur Verfügung, zum Beispiel bei niedergelassenen Radiologen. Schließlich müssen sich die Praxen an strenge Hygiene- und Abstandsregeln halten, durch die wesentlich weniger Patienten kommen können. Was genau das Problem ist, wisse er aber nicht.

20 Prozent weniger Patienten pro Tag

„Die Diagnostik ist auch bei uns eingeschränkt, natürlich“, sagt Keilholz. Die Hygieneanforderungen seien auch an der Charité deutlich gestiegen. Es gebe weniger Termine. Die Desinfektion dauere länger. Abstandsregelungen bedeuteten weniger Platz in den Wartezimmern. Etwa 20 Prozent weniger Patienten pro Tag können sie untersuchen. Das gelte aber nur für Computertomografien und Röntgenbilder, die Laborarbeit laufe normal.

Etwa 30 Prozent weniger neue Patienten kämen ins Comprehensive Cancer Center der Charité, schätzt Keilholz. Bei Brustkrebs seien es sogar 50 Prozent weniger, da die Brustkrebsscreenings ausgesetzt waren, durch die viele Frauen auf eine Erkrankung aufmerksam werden. „Auch bei Darmkrebs geht es gegen 50 Prozent“, sagt Keilholz. Er vermutet, dass Patienten auf Darmspiegelungen verzichten, weil auch die ein Infektionsrisiko bergen. Dabei ist nach wie vor eine frühe Behandlung wichtig für eine gute Heilungschance. „Bei Magenkrebs sollte innerhalb von vier Wochen die Therapie beginnen, bei Darmkrebs hat man etwa sechs bis acht Wochen Zeit, bei Brustkrebs ist das hingegen individuell sehr unterschiedlich.“

Menschen lassen Symptome nicht abklären

Vor einer „Bugwelle an zu spät diagnostizierten Krebsfällen“ warnt auch eine „Taskforce“, die das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft Mitte März als gemeinsames Frühwarnsystem aufgebaut hatten, um Veränderungen in der onkologischen Versorgung während der Covid-19-Pandemie zu beobachten. „Ein Aussetzen von Früherkennungs- und Abklärungsmaßnahmen ist nur über einen kurzen Zeitraum tolerierbar, sonst werden Tumoren möglicherweise erst in einem fortgeschrittenen Stadium mit dann schlechterer Prognose erkannt“, sagt Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums. „Wir beobachten derzeit, dass Menschen Symptome nicht ärztlich abklären lassen. Patienten sollten sich aber nicht scheuen, auch während der Covid-19-Pandemie Ärzte und Krankenhäuser aufzusuchen.“

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„Wir empfehlen auch, die Kapazitäten zur Abklärung und Therapie von Krebserkrankungen im regionalen Bereich durch Leitstellen zu koordinieren, die idealerweise an die großen Krebszentren angegliedert sind“, sagt Olaf Ortmann, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft. „Patienten könnten die Leitstellen dann über spezielle Hotlines erreichen.“ Doch auch das scheint nicht ganz wie gewohnt zu funktionieren: „Erstaunlich ist, dass unsere Hotline im Moment deutlich weniger Anfragen verzeichnet“, sagt Ulrich Keilholz. Er fragt sich, woran das liegt: „Vielleicht ist das so, weil Befunde nicht zusammen beim Arzt eintreffen und die Diagnostik nicht so läuft wie sie sollte.“

Bei einigen Hotlines laufen die Telefone heiß

Bei anderen Krebs-Info-Hotlines laufen dagegen seit Beginn der Pandemie die Telefone heiß: Von einer Flut von Anfragen zu Beginn der Pandemie spricht Susanne Weg-Remers, Leiterin des Krebsinformationsdienst KID des Deutschen Krebsforschungszentrums. Sonst hätten sie etwa 2700 Anfragen pro Monat, im März waren es 4200, bei 38 Prozent davon ging es um Covid-19. Im April sei es dann wieder etwas abgeflaut. Dass es im April weniger Anfragen geworden seien, könne vielleicht auch eine Folge davon sein, dass die Leute nicht zum Arzt gehen, vermutet Weg-Remers. Weniger Krebsdiagnosen hätten weniger Informationsbedarf zur Folge, aber das sei nur eine Spekulation. „Wir bieten ein sehr niederschwelliges Angebot. Man kann uns spontan anrufen, das ist eine andere Situation als beim Arzt, wo man zunächst nur mit einer Sprechstundenhilfe spricht.“

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Auch die Hotline der deutschen Krebshilfe beschäftigt sich seit Wochen viel mit Fragen, die sich Krebspatienten durch die Pandemiesituation stellen: „Anfangs ging es vor allem um verschobene Tumoroperationen und Diagnosen, etwa die Hälfte aller Anrufe bezog sich auf die Covid-19-Pandemie“, sagt Christiana Tschoepe von der Deutschen Krebshilfe. „Jetzt geht es aber mehr in Richtung Psychoonkologie.“ Und da gibt es tragische Fälle: Ein 26-jähriger Mann rief etwa aus einem Krankenhaus an. Gerade hatte er bei der Arztvisite die Diagnose „weit fortgeschrittener Darmkrebs“ bekommen. Die Angehörigen durften ihn nicht besuchen, geschweige denn beim Arztgespräch dabei sein. Bei seinem Anruf bei der Hotline wirkte er hilflos und wie in einer Art Schockzustand. Er hatte viele Fragen, die er niemandem stellen konnte: „Muss ich jetzt sterben?“, fragte er.

Begleitverbote sind ein großes Thema

Das Thema Begleitung ist jetzt, wo es Besuchs- und Begleitverbote gibt, ein großes in den Anrufen bei der Deutschen Krebshilfe. „Sonst nehmen Patienten oft jemanden mit, jetzt müssen die Patienten allein zu solchen Gesprächen gehen“, sagt Tschoepe. „Und Kinder sagen: ,Wir erfahren nicht, wie es unseren alten Eltern geht, die eine Diagnose am Telefon oft nicht richtig wiedergeben können.‘ Sonst können solche Fragen beim Arztgespräch direkt gestellt werden.“ Da müsse man Lösungen finden. „Warum nimmt der Arzt nicht die Patientin und ihren Ehemann mit nach draußen oder sorgt dafür, dass ein Angehöriger via Tablet wenigstens virtuell dabei sein kann?“

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Anrufe von Menschen, die Angst hatten, sich bei einer Untersuchung anzustecken, habe es nur vereinzelt gegeben. „Die Positivnachricht ist, dass das Mammografie-Screening, das wochenlang eingestellt war, am 4. Mai wieder beginnt“, sagt Tschoepe. Zunächst sei es eine große Dramatik gewesen, Facharzttermine zu bekommen, jetzt entspanne sich die Lage. Auch die Deutsche Krebshilfe appelliert an die Patienten, sich untersuchen zu lassen: „Es ist viel wichtiger, die Krebsdiagnose abzuklären, als sich vor Corona zu schützen“, sagt Tschoepe.

An der Charité wurden Tumoroperationen nicht ausgesetzt

Ulrich Keilholz von der Charité bringt es so auf den Punkt: „Mehr Patienten sterben an Krebserkrankungen als an Corona-Infektionen.“ Tumoroperationen seien an der Charité – anders als in anderen deutschen Krankenhäusern – nie ausgesetzt worden. „Wo wir aber bisher aufgepasst haben, sind die Nachsorgen“, sagt Keilholz. „Das Risiko, sich anzustecken, ist vorhanden, deshalb haben wir das so weit hinausgeschoben wie möglich.“ Deshalb fanden in den vergangenen sechs Wochen kaum Nachsorgetermine statt. Doch es habe sich gezeigt, dass man die Ansteckungsgefahr im Griff habe. Von mehreren tausend Krebspatienten, die in der Charité behandelt werden, hätten sich weniger als zehn mit einer Corona-Infektion angesteckt. „Das Risiko, andere Patienten anzustecken, ist doch sehr gering“, sagt Keilholz. Deshalb wolle man jetzt mit den Nachsorgen wieder früher beginnen. „In den sechs Wochen ist noch kein Problem entstanden, aber wenn man das drei Monate aussetzen würde, könnten welche auftreten.“ Und so geht es auch bei der Therapie von Krebs immer mehr in Richtung Normalität – wenn auch nur auf Probe.

WO PATIENTEN RAT BEKOMMEN:

Der Krebsinformationsdienst des DKFZ (0800-420 30 40, krebsinformationsdienst@ dkfz.de) und das Infonetz Krebs der Deutschen Krebshilfe (0800-80 70 88 77,

krebshilfe@infonetz-krebs.de) stellen seit Beginn der Covid-19-Pandemie zusätzliche Informationen für Krebspatienten zur Verfügung. Beide Dienste haben ihre Kapazitäten verstärkt, um den derzeitigen Ansturm von Nachfragen bewältigen zu können, so gibt es jetzt etwa zusätzlich einen Chatroom. Die aktuelle Öffnungszeiten für den Chatroom finden sich im Netz unter wwww.krebsinformationsdienst.de.

Viele Informationen zum Thema finden sich auch auf der Homepage des Charité Comprehensive Cancer Centers: https://cccc.charite.de. Das Zentrum bietet auch eine Cancer-Hotline für Patienten an unter der Telefonnummer 030-450564222.

Psychologische Beratung (zurzeit nur telefonisch) bietet auch die Berliner Krebsgesellschaft (www.berliner-krebsgesellschaft.de). Telefon-Termine kann man unter 030-283 24 00 vereinbaren.

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