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Berlin: „Paris ist die Hölle, Berlin das Paradies“

Bei der Unicef-Kinderstudie schneidet die Stadt schlecht ab. Zu schlecht, finden nicht nur viele Zugezogene

Julian G., Schriftsteller aus Irland, findet als Vater Berlin einfach „fantastic“. Eine florierende Second-Hand-Wirtschaft, die das Einkleiden verbilligt, fair bezahlte Jobs und vor allem subventionierte Kitaplätze. Und seine kleine Tochter kann auf den breiten Bürgersteigen Fahrrad fahren. In Irland sei es mit Kindern dagegen viel schwieriger. Und teurer. „Ein Freund dort kann es sich nicht leisten, ein zweites Kind zu kriegen.“

Unicef ist da anderer Meinung. Das UN-Kinderhilfswerk hat die Lebensbedingungen von Kindern in Europa verglichen. Irland kam auf den 9. Platz, Deutschland auf den 11. Und Berlin landete im Ranking der deutschen Länder auf dem 13. von 16 Rängen. Ein Nachbeben zwei Jahre nach dem letzten Pisa-Schock.

„Das, was ich mit meinem Kind hier erlebe, ist statistisch unsichtbar“, sagt Julian G. und lacht. „Die Studie ist dominiert von den wirtschaftlichen Grunddaten“, rügt Wolfgang Penkert von der Senatsverwaltung für Bildung und Wissenschaft. Da stehe Berlin natürlich schlecht da.

Wie misst man Kinderfreundlichkeit also richtig? Ist die materielle Basis der Familien ausschlaggebend, die kindgerechte Infrastruktur oder das subjektive Empfinden? Unicef hat 15-jährige Deutsche nach ihren Jobaussichten gefragt. Mehr als 30 Prozent sagten, sie rechnen damit, keine qualifizierte Arbeit zu finden. Da ist die subjektive Einschätzung weit schlimmer als die Wirklichkeit. Der teutonische Hang zum Schwarzmalen.

Von außen betrachtet schaut Deutschland meistens besser aus. Das gilt umso mehr für Berlin, das Besucher aus aller Welt begeistert, nur eben nicht die Berliner. Pascale Hugues, Tagesspiegel-Kolumnistin und Mutter von zwei Jungen, kennt das Leben in Metropolen wie London und Paris. In punkto Kinderfreundlichkeit ist Berlin ihr absoluter Favorit. „Die Wohnungen sind groß, die Stadt ist viel grüner, die Luft besser. Man kann schwimmen gehen.“ Nur die schwach entwickelte Esskultur in Kitas und Schulen bekümmert sie ein wenig. Generell seien die Deutschen viel kinderfreundlicher als sie glaubten. „Paris mit Kindern ist die Hölle, Berlin dagegen das Paradies.“

Rita Eifel hat mit ihrer vierköpfigen Familie jahrelang in Rom gelebt, bevor sie nach Berlin kam. „Rom ist für kleine Kinder eine schwierige Stadt, voll geparkt mit Autos.“ Die wenigen Spielplätze empfand sie als „einfallslos“. Auch das Freizeitangebot war teurer und spärlicher. „In Berlin kommt man leichter in Sportvereine und muss dafür nicht durch die halbe Stadt fahren.“ Mit Kindern in Restaurants zu gehen, sei dagegen in Rom angenehm unkompliziert gewesen. Im Kinderfreundlichkeits-Ranking würde sie Berlin weit vor Rom setzen. Bei Unicef gibt es nur den Ländervergleich. Da liegt Italien knapp vor Deutschland.

„Wir müssen uns nicht verstecken“, verteidigt Wolfgang Penkert seine Stadt. Und er zählt auf: 1700 Kitas, 370 Jugendfreizeitstätten, 350 Kinderarztpraxen, viele Nachbarschaftszentren. Jedem Kind unter zwölf Jahren stehen rund sechs Quadratmeter Spielplatzfläche zur Verfügung. Insgesamt gibt es 1844 öffentliche Spielflächen für 500 000 Kinder und Jugendliche. Es gibt den Familienpass, den Ferienpass, Puppentheaterbühnen, Kindermuseen. Ein Grund für die günstige Pro-Kopf-Ausstattung ist allerdings die stark gesunkene Kinderzahl. „Wir haben 30 000 Familien an das Umland verloren“, sagt Penkert. Berlin ist die Stadt der Singles und hat auch im Vergleich mit anderen Großstädten in Deutschland die wenigsten Kinder. Wo keine Kinder sind, geht auch die Fähigkeit verloren, mit ihnen zusammenzuleben.

Kinderfeindlichkeit kenne sie, sagt Christine Meerstein-Engel aus Prenzlauer Berg, Marketingexpertin und Mutter einer Vierjährigen. Am S-Bahnhof Ostkreuz musste sie mal lange warten, bis ihr jemand half, den Kinderwagen die Treppen herunterzutragen. Auch in Neukölln vermutet sie ein Umfeld, das für Kinderhabende nicht gerade zuträglich ist.

In ihrem Wohnviertel in Prenzlauer Berg sind Kinder überall präsent, und kaum ein Erwachsener kann es sich leisten, sich über zu viel Toberei auf dem Hinterhof zu beschweren. Übervolle Spielplätze gibt es an jeder Ecke, die Kitas haben lange Wartelisten. „Hier fühlt man sich mit Kindern geborgen“, sagt Meerstein-Engel. Sie engagiert sich im zweisprachigen „Berlin-Kids-Kindergarten“. Die Eltern suchen jetzt ein Gebäude, um eine zweisprachige Schule aufzumachen. Dieses Angebot gibt es bislang nicht in Prenzlauer Berg.

Doch trotz des Lobes: Es gibt noch einiges zu tun, wie eine andere, im November 2006 veröffentlichte Studie zum Thema Kinderfreundlichkeit in Berlin zeigt. 350 Eltern aus verschiedenen sozialen Milieus wurden dafür befragt – das Ergebnis war zwiespältig. Viele Eltern lobten die Kitas und das Kultur- und Freizeitangebot. Allerdings vermissten sie Betreuungsmöglichkeiten beim Einkaufen oder in Notfällen. Schlechte Noten bekam das Lehrstellenangebot. Auch die wirtschaftlich schlechte Lage Berlins wirkt sich aus. Auf die Frage, warum so wenig Kinder geboren werden, lautete die häufigste Antwort: „Berufliche Gründe“.

Beklagt wurden auch schlechte Erfahrungen in Bussen und Bahnen. „Das öffentliche Verkehrsnetz wurde gelobt, aber viele ärgern sich über unfreundliches Personal“, sagt die Leiterin der Studie, Eva Schulze, vom Institut für Sozialforschung. Und noch etwas lag vielen auf der Seele: Alles kostet Geld.

Das moniert auch Sylvia Hahnisch, Kinderbuch-Autorin und Vorsitzende der Treptower Initiative „Brücke der Herzen“, die Preise für Kinderfreundlichkeit vergibt und internationale Camps für Kinder aus sozial schwachen Familien organisiert. Ein Ferienpass für Daheimgebliebene allein reiche nicht aus, um die Kinder auf die Welt vorzubereiten. Manches machten andere Länder, die bei der Unicef-Studie vorne liegen, doch besser, sagt Hahnisch. Dänemark habe kleinere Klassen und bereite die Kinder besser auf das Berufsleben vor. Dänemark liegt bei Unicef übrigens auf Platz 3.

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