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Vor 27 Jahren stürmten Demonstranten die Stasi-Zentrale in Lichtenberg. Die Suche nach der Wahrheit hatte da gerade erst begonnen.

© picture-alliance/ dpa

Parlamentarischer Ehrenrat in Berlin: Auf der Spur der Spitzel

Nach dem Fall Andrej Holm wird wohl ein Ehrenrat zur Überprüfung von Abgeordneten eingesetzt. Diese Institution beendete in den Wendejahren so manche Politikerkarriere.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Er war der erste, der sich wegen der Zusammenarbeit mit der Stasi aus dem Berliner Abgeordnetenhaus verabschieden musste: Hans-Peter Wolf, Mitglied der FDP-Fraktion, ein ehemaliger Abteilungsleiter in der Zentrale der SED-treuen Blockpartei LDPD. In der Endphase der DDR saß Wolf mit Regierungs- und Oppositionsvertretern am Zentralen Runden Tisch. Eine der wichtigsten Aufgaben des Gremiums war die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, deren hauptamtlicher Mitarbeiter Wolf einst war.

Im Mai 1991 teilte er mit, „nach persönlicher Befragung und Verständigung“ mit der FDP-Fraktion sein Mandat niederzulegen. Er wolle damit die politische Handlungsfähigkeit seiner Partei schützen, im juristischen Sinne sei er sich aber keiner Schuld bewusst. Für die Freien Demokraten war dies Anlass genug, mit den Grünen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Überprüfung aller Abgeordneten zu beantragen. Die PDS (heute: Die Linke) schloss sich der Initiative an. Die Große Koalition aus CDU und SPD wollte stattdessen einen Ehrenrat zur Aufklärung möglicher Stasi-Verstrickungen einsetzen.

Es gab so manche politische Schlammschlacht

Der Streit drehte sich nicht allein um den Namen, den das Gremium haben sollte, sondern um die Frage, ob für die Überprüfung nur die Gauck-Akten herangezogen oder auch Zeugen angehört und andere Beweismittel genutzt werden sollten. Die Opposition wollte eine umfassende und öffentlich nachvollziehbare Überprüfung. Sozial- und Christdemokraten hielten davon wenig. Dies nährte das Gerücht, dass die Regierungsfraktionen Problemfälle in den eigenen Reihen möglichst vertraulich abräumen wollten.

Schließlich fand das Abgeordnetenhaus einen Konsens. Im Oktober 1991 wurde ein Ehrenrat gebildet, dem die Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien (CDU) vorsaß. Er sollte auf Grundlage der Gauck-Unterlagen, aber auch anderer belastbarer Informationen („Tatsachen Dritter“) zu jedem Abgeordneten in geheimer Sitzung eine Empfehlung abgeben. Zweifelsfälle sollten an einen Untersuchungsausschuss abgegeben werden.

Bis es soweit war, erlebte das Parlament aber noch manche politische Schlammschlacht, vor allem gegen die PDS. Kaum war der FDP-Mann Wolf gegangen, gab der PDS-Landeschef und Abgeordnete Wolfram Adolphi zu, dass er für die Stasi gearbeitet hatte. Der ehemalige Korrespondent der außenpolitischen DDR-Wochenzeitung „Horizont“ war in den achtziger Jahren in Japan als Kundschafter aktiv und wurde 1988 SED-Parteisekretär an der Humboldt-Universität.

Doch 1990 kamen ihm Elternvertreter an der Schule seiner Kinder auf die Spur. Ende Mai 1991 bekannte sich Adolphi notgedrungen zu seiner Vergangenheit und schied im August aus dem Parlament aus, auch weil der innerparteiliche Druck zu stark wurde. Die HU kündigte ihrem Mitarbeiter im selben Jahr fristlos.

Nach dem Fall Andrej Holm wird wohl ein Ehrenrat zur Überprüfung von Abgeordneten eingesetzt.
Nach dem Fall Andrej Holm wird wohl ein Ehrenrat zur Überprüfung von Abgeordneten eingesetzt.

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Es wurde klassifiziert: Unbedenklich, harte Fälle, Problemfälle

Seit elf Jahren ist der ausgewiesene China-Experte nun schon wissenschaftlicher Mitarbeiter des Linken-Abgeordneten Roland Claus im Bundestag. Anfang der neunziger Jahre führte sein Fall fast zu handgreiflichen Auseinandersetzungen im Abgeordnetenhaus. Die CDU-Parlamentarier liefen damals mit „Stasi raus“-Plaketten herum und der CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky sprach von der „Gestapo des Kommunismus“. Der DDR-Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil brachte in einer lautstarken Debatte im Mai 1991 auf den Punkt, was die Mehrheit der Volksvertreter dachte: „Es kann nicht sein, dass die dunklen Mächte ungehindert ihre klebrigen Seile weiterspinnen dürfen“.

Allein die Ankündigung, dass ein parlamentarischer Ehrenrat eingerichtet werden sollte, beförderte offenbar auch bei anderen Abgeordneten den Bekennermut. Im Juni 1991 outeten sich nach Adolphi auch die PDS-Politiker Wolfgang Girnus, Norbert Pewesdorff und Dagmar Pohle als Ex-Mitarbeiter der Stasi. Sie lehnten es aber strikt ab, ihr Mandat zurückzugeben und Parlamentspräsidentin Laurien räumte ein, dass es in einem Rechtsstaat nicht möglich sei, gewählte Abgeordnete zur Mandatsniederlegung zu zwingen.

Kaum war der Ehrenrat eingerichtet, brodelte es in der Gerüchteküche. Die „Tageszeitung“ berichtete über angeblich 17 Verdachtsfälle im Landesparlament, ohne dies zu belegen und wurde dafür von Laurien scharf kritisiert: „Pauschale Beschuldigungen treffen die Integrität des gesamten Parlaments.“ Im März 1992 lagen dann 240 Bescheide der Gauck-Behörde im Panzerschrank der Abgeordnetenhausverwaltung und man einigte sich auf eine Klassifizierung: Unbedenklich, harte Fälle und Problemfälle (für den Untersuchungsausschuss).

Seeling: "Heuchelei" der anderen Parteien

Im Ergebnis der Überprüfung durch den Ehrenrat forderte das Parlament im September 1992 die Abgeordneten Girnus und Pohle, aber auch den fraktionslosen Michael Czollek auf, ihr Mandat niederzulegen. Vorher schon war der SPD-Abgeordnete Joachim Schmidt dem Votum gefolgt. Der Abgeordnete Dirk Schneider, der 1990 von den Grünen zur PDS gewechselt war, kam einer Überprüfung zuvor, indem er schon im November 1991 sein Mandat aufgab. Er hatte für die Stasi nicht nur die Grünen sehr intensiv ausgeforscht.

Doch die PDS stellte sich hinter ihre Leute und die Fraktionschefin Gesine Lötzsch sprach von einem „unsittlichen Ritual“, Girnus und Pohle hätten „Menschen nicht in einer Art geschadet, die eine Mandatsniederlegung rechtfertigen würde“. Nur eine Minderheit in der PDS, damals vertreten durch die Abgeordnete Marion Seelig, war anderer Meinung. In einer denkwürdigen Parlamentsdebatte prangerte Seelig damals die „Kette von Unerträglichkeiten an, die es schwer machen, an die Erneuerung der Partei zu glauben“. Es habe sich in der PDS eine „Wagenburg von Nichtbegreifen, Trauer um den Verlust von Privilegien und Nabelschau gebildet“.

Andererseits warf Seelig den anderen Parteien „Heuchelei“ vor, weil sie nur die PDS an den Pranger stellten, statt sich in den eigenen Reihen mit der DDR-Geschichte auseinanderzusetzen. „Nach welchem deutschen Reinheitsgebot ist es denn weniger verwerflich, in einer Blockpartei statt in der SED Verantwortung getragen zu haben?“ Beide Lager standen sich unversöhnlich gegenüber, daran änderte sich vorerst auch nichts. Und weitere Abgeordnete gerieten in den Fokus des Ehrenrats: Besonders der Kulturpolitiker Dieter Klein (PDS) geriet unter Druck. Dagegen sahen auch SPD und CDU, Grünen und FDP bei den PDS-Abgeordneten Norbert Pewesdorff und Bettina Pech keine ausreichenden Indizien für eine schwerwiegende Verstrickung in die Aktivitäten der Staatssicherheit.

Nicht alle Fälle wiegen gleich schwer

Dann gab es noch zwei Fälle, um die sich 1993 nicht der Ehrenrat, sondern der Generalbundesanwalt in Karlsruhe kümmerte. Die SPD-Abgeordneten Ursula Leyk und Helga Thomas wurden der Spionage für die DDR bezichtigt. Sie galten als „West-IMs“, bestritten den Vorwurf der Spionage aber – und behielten ihre Mandate bis zur Wahl im Herbst 1995. Das Verfahren gegen Helga Thomas wurde wegen geringer Schuld eingestellt. Die Ermittler hatten vor allem ihren Ehemann Thomas im Visier, der bis 1989 im Parlament saß. Er nahm sich kurz vor Beginn der Gerichtsverhandlung das Leben.

Auch in den folgenden Wahlperioden wurde ein parlamentarischer Ehrenrat eingerichtet. Und weil Girnus, Klein und Pohle 1995 erneut ins Abgeordnetenhaus einzogen, wurde ihnen wieder empfohlen, das Parlament zu verlassen. Das galt auch für die PDS-Abgeordnete Margrit Barth, die im selben Jahr als Jugendstadträtin in Marzahn wegen ihrer Arbeit für die Staatssicherheit entlassen wurde, dann aber mit einem Direktmandat ins Parlament einzog. Dort blieb sie bis 2011 und bestritt unbeirrt alle Vorwürfe.

Alle betroffenen PDS-Politiker wurden von ihrer Fraktion stets in Schutz genommen. Noch 1998 wurde dies damit begründete, dass ihre Abgeordneten „stets offen mit ihren Biografien umgegangen“ seien und dies auch vor den Wählern nicht verheimlicht hätten. Außerdem sind nicht alle Fälle gleich schwerwiegend: Von Dagmar Pohle weiß man etwa, dass sie 1981 nur wenige Monate als inoffizielle MfS-Mitarbeiterin geführt wurde. Der Kontakt kam zustande, als sie den Leerstand einer Wohnung gemeldet hatte, die aber eine konspirative Stasi-Wohnung war. Auch der Ehrenrat stufte sie letztlich als einen „nicht sehr schwerwiegenden Fall“ ein. Pohle blieb bis 1999 im Abgeordnetenhaus, wurde Bezirksbürgermeisterin in Marzahn-Hellersdorf, dann Stadträtin und seit der Wahl 2016 führt die erfahrene Kommunalpolitikerin wieder das Bezirksamt.

Bis 2021 soll noch ein parlamentarischer Ehrenrat eingerichtet werden

In welchem Umfang Wolfgang Girnus in die Stasi-Machenschaften verwickelt war, wurde nie bekannt. Er zog sich 2001 aus dem Abgeordnetenhaus zurück und ist noch Geschäftsführer des Kommunalpolitischen Forums der Linken in Berlin – Genossin Pohle ist hier Vorsitzende.

Nach Bildung der rot-roten Koalition 2002 gab es noch einmal Ärger, weil sich der neue Wirtschaftssenator Gregor Gysi weigerte, als PDS-Abgeordneter überprüft zu werden. Dabei hätten CDU, Grüne und FDP sich die Gauck-Akten Gysis gern angesehen. So aber blieben die vertraulichen Informationen aus dem Stasi-Check auf dem Schreibtisch des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) liegen.

Auch die rekonstruierten Karteien der Stasi-Auslandsabteilung („Rosenholz-Dateien“), die 2003 von der CIA an die Stasi-Bundesbeauftragte Marianne Birthler überstellt wurden, lieferten keine neuen Erkenntnisse. Aus der Arbeit des Ehrenrats wurde nach den Abgeordnetenhauswahlen 2006 und 2011 ein politisches Ritual. Neue Stasi-Fälle gab es jedenfalls nicht.

Zwar hat der öffentliche Diskurs um die DDR-Vergangenheit des Ex-Staatssekretärs Andrej Holm dazu geführt, dass für die Wahlperiode bis 2021 noch einmal ein parlamentarischer Ehrenrat eingerichtet wird. Aber es wäre eine Überraschung, wenn drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall noch Abgeordnete gefunden werden, die für die Stasi tätig waren. Trotzdem haben SPD und CDU, Linke, Grüne und FDP wieder einen Antrag auf Einsetzung des Ehrenrats im Parlament eingebracht. Die AfD ist nicht im Boot, weil sie die freiwillige Überprüfung ablehnt und fordert, belasteten Abgeordneten das Mandat zu entziehen. Das aber wäre verfassungswidrig. Der Innenausschuss des Parlaments wird am Montag über den Antrag beraten.

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