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Patientenverfügung: Willensstärke

Er ist ein Familienmensch, lebensfroh, gewissenhaft – dann wird bei ihm ein unheilbarer Tumor entdeckt Die Töchter wollen dem letzten Wunsch des Vaters folgen, doch die Patientenverfügung ist zu ungenau

Er habe an alles denken wollen. „Ich muss endlich aufschreiben, was mit mir passieren soll“, sagte Linus Müller (Name geändert) seinen beiden Töchtern. Vergangenen Sommer wandert der lebenslustige Charlottenburger noch durchs Erzgebirge, im Juli hilft er Verwandten beim Umzug. Die Rückenschmerzen spürt der 63-Jährige zwar, doch Orthopäden sprechen von „altersbedingten Abnutzungserscheinungen“. Etwas Krankengymnastik, ein paar Tabletten, nichts Dramatisches.

Trotzdem will der pensionierte Chemiker niederschreiben, wie mit ihm umgegangen werden soll, wenn er mal schwer krank wird. In einer Patientenverfügung, also einer Willenserklärung für den Fall, dass man selber einwilligungsunfähig ist, wird ein Arzt angewiesen, welche Behandlung er vornehmen oder unterlassen soll. Müller sammelt Artikel, liest Fachbücher, holt sich bei Freunden Rat.

Doch bevor er dazu kommt, das alles niederzuschreiben, wird der Rentner Ende Oktober ins Vivantes-Klinikum Spandau eingeliefert. Herzprobleme, heißt es. Beim Röntgen stellen die Ärzte „Auffälligkeiten“ fest. „Zwei Tage später stand das Wort Krebs im Raum“, sagt Tochter Anja. Die Mediziner diagnostizieren fortgeschrittenen Lungenkrebs, überall im Körper – selbst im Kopf – haben sich Metastasen gebildet. Müllers Gedächtnis arbeitet nicht mehr zuverlässig. „Zu sehen, wie der eigene Vater den Verstand verliert, ist das Schlimmste“, sagt Anja Müller ganz leise.

Die Ärzte beginnen eine Bestrahlung. Um die Entzündungen an den Metastasen zu lindern, bekommt der Vater Cortison. Ohne Erfolg. Der Tumor ist schon zu weit ausgebreitet, Heilung ausgeschlossen. Anfang November darf Müller noch einmal nach Hause. Nun endlich füllt er eine Patientenverfügung aus, auf einem Formblatt kreuzt er an: keine künstliche Ernährung, keine Antibiotika, keine Wiederbelebung. Stattdessen erklärt sich der todkranke Vater mit Palliativmaßnahmen einverstanden, die nur noch der Linderung der Beschwerden dienen – und nimmt ausdrücklich lebensverkürzende Nebenwirkungen in Kauf. „Das Ausmaß der Krankheit war bekannt, der richtige Zeitpunkt für eine Patientenverfügung“, sagt Ernst Späth-Schwalbe, der behandelnde Chefarzt der Onkologie im Klinikum Spandau. Doch weder Arzt noch Patient konnten vorsehen, dass Müllers nach langen Überlegen aufgesetzte Willenserklärung nicht ausreicht.

Eine Patientenverfügung ist bindend, das hat der Bundesgerichtshof 2003 bestätigt. Wer für sich ein Leben als bettlägeriger Demenzkranker ablehnt, den muss der zuständige Arzt sterben lassen, eine Behandlung wider Willen wäre Körperverletzung. Umfragen zufolge haben nur 15 Prozent der unter 64-Jährigen in Deutschland eine Patientenverfügung. Das Ankreuzen von Vordrucken ist dabei selten ausreichend, individuelle Wünsche sollten in einem Schreiben dargelegt werden. „Der Patient sollte sich so anschaulich wie möglich mitteilen“, sagt Späth-Schwalbe. Letztlich könne eine Verfügung nur ein Hinweis sein, die Gewissensfreiheit des Arztes hebe sie nicht auf, meinen einige Mediziner.

„Vielleicht sind Demenzkranke glücklich, warum sollten wir sie sterben lassen“, fragt Detlef Dekowski von der Caritas. Viele Katholiken gehen noch weiter: Bei Betroffenen, die – wie viele Wachkomapatienten – nicht unmittelbar im Sterben liegen, sollen lebenserhaltende Therapien in keinem Fall abgebrochen werden. Wer kann ausschließen, dass medizinischer Fortschritt nicht doch noch Heilung bringen wird? Wer entscheidet, wann sich ein Betroffener nicht mehr angemessen äußern kann? Und wer weiß, ob ein früherer Wille auch dem aktuellen Wunsch eines Patienten entspricht?

Oft haben Gesunde keine Vorstellung davon, wie sie sich fühlen werden, wenn sie todkrank sind. „Er ist nicht derselbe wie vor dem Unfall“, heißt es häufig. Was Patienten früher glaubten, werde plötzlich verworfen, Angehörige könnten die Wünsche von Betroffenen oft nicht einschätzen, sagen Ärzte.

Linus Müller spricht nur noch wenig, manchmal glaubt er, wieder Kind zu sein. Um wenigstens Müllers Gedächtnis zu erhalten, beginnt Späth-Schwalbe mit einer Ganzhirnbestrahlung: „Wenn man Glück hat, wird das Leben des Patienten um ein paar Monate verlängert.“ Schon nach wenigen Tagen hat Müller Angst vor der Therapie. Ihr Vater – „kopflastig, aber ungeheuer lebensfroh“ – habe so nicht leben wollen, sagen die Töchter.

Kritiker sehen in vielen Patientenverfügungen eine Erlaubnis zur tödlichen Unterlassung. Vertreter von Hospizen befürchten, dass Kranke aus Angst vor schlechter Pflege früher sterben wollen, als notwendig wäre. In Zeiten leerer Kassen fühlten sich Alte unter Druck gesetzt, möglichst wenig Kosten zu verursachen, glaubt der Hamburger Jurist Oliver Tolmein. Es gebe außerdem Situationen, in denen Heilungschancen kaum abschätzbar seien. Im Falle einer 72-jährigen Komapatientin hätten Angehörige nach drei Monaten ausbleibender Besserung die lebensverlängernden Maßnahmen einstellen lassen wollen. Plötzlich habe sich der Zustand der Frau verbessert. Bevor sie starb, sei sie für ein paar Tage ansprechbar gewesen. „Die Behandlung hat sie nicht abgelehnt“, sagt Tolmein.

Dennoch sollte das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen schon vor der unmittelbaren Sterbephase erlaubt sein, sagt Gita Neumann vom Humanistischen Verband. Noch gibt es hierzulande kein Sterbehilfegesetz. Nur wenn das Sterben etwa durch Beenden der künstlichen Ernährung begleitet wird, ist dies nicht strafbar. Manche weichen deshalb aus. Allein 2006 sind mehr als 100 Bundesbürger mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz aus dem Leben geschieden.

Wenn Ärzte einen Patienten gegen dessen Willen nicht sterben lassen, wenden sich seine Angehörigen häufig an den Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz: „Eine Patientenverfügung ist mündlich oder schriftlich für Arzt und Krankenhaus verbindlich.“ Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat 2006 einer Mutter die Betreuung ihres Kindes gestattet, obwohl die Frau eine künstliche Ernährung ihrer unheilbar kranken Tochter ablehnte. In vielen Fällen gibt es aber Streit, weil der Patientenwille unklar formuliert ist. Eine Willenserklärung, die regelt, dass nach einem Schlaganfall keine künstliche Ernährung gewünscht ist, hat keine bindende Wirkung, wenn der Betroffene an Demenz erkrankt ist. Eine Verfügung ist umso wirksamer, je genauer sie den Fall trifft, über den entschieden werden soll. Sie muss aber auch offen genug sein, um die Vielzahl möglicher Erkrankungen abzudecken.

„Darin liegt das Problem“, sagt der Medizinethiker Arnd May von der Universität Bochum. Kein Arzt wisse, was „angemessene Möglichkeiten“ oder „erträgliches Leben“ aus Sicht eines bestimmten Patienten sein sollen. In etwa 75 Prozent der Fälle seien Patientenverfügungen deshalb unbrauchbar, schätzt Rechtsanwalt Tolmein. Er rät, erst nach intensiver Beratung einen ausführlichen Text zu schreiben. Es sollte deutlich werden, ab wann genau die Verfügung gilt. Sie kann vom Verfasser jederzeit – auch mündlich – aufgehoben oder geändert werden.

In der Patientenverfügung von Linus Müller steht zum Thema Ganzhirnbestrahlung kein Wort. Sollen die Ärzte die Therapie abbrechen, weil eine Heilung aussichtslos ist und Müller widerwillig wirkte? Oder auf die minimale Chance kurzer Besserung hoffen? „Bei anhaltender Bestrahlung kann sich die Lage kurzzeitig etwas verbessern“, sagt Späth-Schwalbe. Julia Müller schaut ratlos zu ihrer Schwester Anja: „Auf solche Entscheidungen wird man nicht vorbereitet.“

Bei der Bestrahlung eines Patienten müssten sich Ärzte jeden Tag fragen, ob sie weitermachen dürfen, warnen Juristen. „Die Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen auf Wunsch des Patienten ist selbst dann geboten, wenn er noch jahrelang am Leben gehalten werden könnte“, sagt Rechtsanwalt Putz. Kann sich der Patient nicht mehr angemessen äußern, fehlt eine Patientenverfügung oder ist sie, wie in Müllers Fall, lückenhaft, müssen Ärzte den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln. Experten raten deshalb, eine Patientenverfügung nicht ohne Vorsorgevollmacht auszustellen und beides beglaubigen zu lassen. Diese Vollmacht ermächtigt einen Vertrauten, an der Stelle des Patienten zu entscheiden. Dabei sollte deutlich werden, dass die Vertrauensperson die Lebenseinstellung des Verfügenden kennt.

Müllers Töchter haben keine Vorsorgevollmacht. Sie besuchen ihren Vater morgens und abends. Ihre Hinweise nehmen die Ärzte entgegen, verbindlich sind sie aber nicht. Was nun? Die vorliegende Patientenverfügung reicht nicht aus. Die Meinung der Töchter deckt sich zwar mit dem Eindruck, den Späth-Schwalbe vom Willen ihres Vaters hat. Doch ist das genug, um die Behandlung abzubrechen?

Zwei Wochen später, Müller ist vom Kampf mit dem Krebs gezeichnet, will ihnen der Vater die Entscheidung abnehmen. Auf dem Flur der Station trifft er auf eine Ärztin: „Ich will nicht mehr, das bringt doch nichts“, sagt er erschöpft. Die morphinhaltigen Mittel, die Linus Müller in seinen letzten Tagen bekommt, lindern nur noch den Schmerz.

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