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Berlin: Peter Hochmann (Geb. 1952)

Die Balkontüren sind geöffnet, eine Nachbarin genießt die leise Musik. Bis jemand brüllt: „Aufhören! Du kannst überhaupt nicht spielen!“.

Mexiko, das wäre es doch. Die Wärme, die Farben, die Mariachi-Musik. Zum ersten Mal reist Peter 1989 nach Mexiko, danach noch zehn Mal. Für einen aus Solingen, graue Industriestadt, harsches Elternhaus, kann Mexiko zum Sehnsuchtsort werden. Besonders, wenn er Musik liebt – viel Ahnung davon muss er ja gar nicht haben. Sein Onkel Günter war ein Virtuose auf dem Blasekamm. Jemand anders spielte Akkordeon, und das hat ihn überzeugt. Peter griff auch zur Quetsche, brachte sich die Griffe selbst bei, und weil er sie mit viel Liebe anreicherte, genügte es irgendwann sogar für Auftritte vor Publikum. Freund Stefan spielte die Mandoline, beide waren das Duo „Bella Figura“, inbrünstige Lieder aus den Häfen von Capri, Neapel, Piräus, bis zuletzt in einem Altersheim, bis buchstäblich zuletzt.

Peter spielt auch in seiner Charlottenburger Wohnung, einmal in einer lauen Sommernacht noch um drei Uhr in der Früh. Die Balkontüren sind geöffnet, eine Nachbarin wird wach, genießt die leise Musik, findet, dass das Leben doch eigentlich schön sei. Bis jemand in den Hof brüllt: „Aufhören! Du kannst doch überhaupt nicht spielen!“ Peter kann keine Note lesen, aber als ob es darum ginge. Er hält kurz inne – und spielt weiter.

Alle im Haus kennen und mögen ihn, Peter wohnt seit 30 Jahren hier. Mal passt er auf die Babys auf, und er hat immer Zeit für ein Schwätzchen. Er lebt allein in seiner 60-Quadratmeter-Wohnung. Mit den Frauen hat das nie so richtig gepasst. Er ist halt ein bisschen eigenbrötlerisch. Er kocht nie, dafür fährt er täglich mit dem Rad nach Kreuzberg in die Markthalle „auf Fresstour“. Andere, die Familienleben haben, bewundert und beneidet er. Ist er einsam? Eigentlich ja, aber er ist auch Realist. Wird schon wissen, dass er einsam ist, weil er die Verantwortung scheut.

Ob das Leben es immer lustig meint mit Peter, sei dahingestellt, aber die Lust am Leben kommt ihm nicht abhanden. Kaum dass er 20 ist und seine Lehre als Dreher hinter sich hat, flieht er nach Berlin wie so viele, die der Bundeswehr entkommen wollen. In Berlin lässt er es krachen. Er gerät in die Gastronomie, kellnert mal hier, mal dort. Und weil das Leben arg lustig ist und das Geld noch nicht angespart werden muss für Mexiko, steckt er die Nase zu oft und zu tief in den Glück versprechenden Schnee.

Aber das ist Jahre her, geblieben ist von seiner Lust auf Substanzen nur der tägliche Joint. Vielleicht macht der ihn so gelassen. Selbst auf dem streng kontrollierten Flughafen von Moskau kann er, sehr zum Entsetzen seines Mitmusikers, nicht von seiner Leidenschaft lassen. „Riechen die doch sowieso nicht!“

Aus den alten Zeiten, in denen es noch höher herging, stammt sein Spitzname, den er gar nicht mag, mit dem man ihn später besser nicht anspricht: „Prosciutto“. Er war damals in der Karibik mit Freunden und Kollegen aus dem „Gasthaus Lentz“ zum jährlichen Betriebsausflug, die Geschäfte liefen gut in jenen Jahren. Da nahmen sie Peter, dessen Begabung nicht so sehr auf dem Gebiet der Fremdsprachen lag, auf die Rolle. Er hatte gefragt, wie man hier „Guten Morgen“ sagt. „Prosciutto“, klärten ihn die Freunde auf. So kam Peter jeden Morgen sehr zur Freude der Freunde und zur Verwunderung des Hotelpersonals in den Frühstücksraum und rief freundlich und fröhlich: „Prosciutto!“

Über die andere Geschichte haben sie auch noch lange gelacht. In Genua, in einem Restaurant, wurde ihm ein ein Meter langer Fisch gezeigt, roh und komplett. Den bestellte er. Und was kam dann aus der Küche? Ein Filet. „Mensch, Mann, also ehrlich, das habe ich doch gar nicht bestellt“, sagte Peter, und die Freunde schlugen sich wieder auf die Schenkel. Wenn sie es später noch tun, sagt er: „Jahaaa, ist ja schon gut. Macht euch nur lustig über mich.“ Nachtragend war er nie.

Vielleicht doch, in dem einen Fall. Einen Kollegen kann er nicht leiden. Der ist aber auch garstig, despotisch, cholerisch. Vor Jahren machte Peter mit ihm und ein paar anderen als Kollektiv das „Gasthaus Lentz“ am Stuttgarter Platz auf. Es kommt oft zum Streit, mit den Jahren aber hat Peter gelernt, auf Durchzug zu stellen. Er könnte auch ahnen, dass er selbst hin und wieder den Anlass bietet. Als er vor 16 Jahren 20 000 Euro lockermachen soll für eine Steuernachzahlung, kriegt er das nicht hin. Der Kollege will ihn endgültig loswerden. Peters Freunde aber setzen sich für ihn ein. Seither ist er nicht mehr Chef, sondern Angestellter.

Mitunter braust er ein bisschen auf, aber so schnell der Furor kommt, so schnell verschwindet er auch wieder. „Jahaaaa, ist ja schon gut!“ Zu viel Aufregung wäre schlecht. Vor zehn Jahren haben sie ihm zwei Stents verpasst. Jetzt sind seine geliebten Radtouren auch medizinisch angeraten.

Das Rad, das Gras, die Musik, das sind Peters Leidenschaften. Zum Duo „Bella Figura“ ist es durch Peters Uroma Elfriede gekommen. Als sie 80 wurde, hat er mit Stefan zum ersten Mal aufgespielt, die ganzen Schmachtfetzen aus den Fünfzigern. Sie waren furchtbar nervös, aber es lief gut. Und so spielten sie noch mal zum Spaß in einem Ausflugslokal in Kladow. Die Gäste waren begeistert, eine Frau so sehr, dass sie Peter ihre Perlenkette geschenkt hat. Die liegt seither in einer Art Schrein auf seinem Küchentisch.

Es läuft gut für die Hobbymusiker. Jede Woche ein Auftritt, wenn 2018 so weitergeht, wird es das lukrativste Jahr. Außerdem hat Peter gerade seinen Rentenbescheid bekommen. 480 Euro sind nicht die Welt, aber es sind 480 Euro, für die er nicht arbeiten muss. Am 13. März wird Peter 66, dann wird er die Rente zum ersten Mal bekommen. Und dann hat er ja auch noch seinen Job hinterm „Lentz“-Tresen. Da werden auch mal wieder ein paar neue Schuhe drin sein. Bei Schuhen war er noch nie pingelig: „300 Euro, jahaa, ist ja gut! Muss man sich auch mal gönnen.“

In der vergangenen Woche der Auftritt in einem Altersheim in Prenzlauer Berg. Er tritt wie immer mit einem Strohhut auf, spielt mit Inbrunst die Quetsche, singt mit Leidenschaft von Capri und Neapel und Piräus. Vier Rollis tanzen einen Rollstuhltanz, zwei alte Damen bewegen sich wie junge Hippie-Mädchen. Bei der Heimfahrt singen Peter und Stefan: „Marina, Marina, Marina“. Das Lied endetet mit: „Oh no, no, no, no, no“.

Angekommen in Charlottenburg tragen die beiden wie immer die Musikanlage in Peters Wohnung im vierten Stock. Stefan erklärt Peter noch die Funktion seines neuen Handys. Dann fällt Peter um. Bumm. Tot.

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