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Autor Peter Wittkamp lebt in Kreuzkölln. Die Gehwegsituation dort ist für seine Zwangsstörung eine besondere Herausforderung.

© Doris Spiekermann-Klaas

Peter Wittkamp über das Leben mit Zwangsstörungen: Wenn die Neurosen den Alltag bestimmen

Peter Wittkamp verhalf der BVG mit #weilwirdichlieben zu Ruhm und hat ein Buch über seine Zwangsstörungen geschrieben. Es ist ernst – aber auch sehr lustig.

Mit den Schuhen schiebt Peter Wittkamp Blätter zur Seite, kratzt ein bisschen auf dem Lehm herum. Hier muss es gewesen sein: das Loch, das ihm so viele Sorgen bereitete. Bei einem Spaziergang am Paul-Lincke-Ufer hatte er es am Rande des schmalen Weges, der am Wasser entlangführt, entdeckt. Das Loch, so seine Annahme, könnte von Radfahrern besonders im Dunkeln leicht übersehen und schnell gefährlich für sie werden.

Der Gedanke ließ Wittkamp nicht mehr los. Also meldete er den Schaden einer Berliner Behörde. Weil er aber vermutete, dass diese sich aus Überlastung nicht zeitnah kümmern würde und er kaum noch etwas anderes tun konnte, als an dieses Loch und die Gefahr, die von ihm ausging, zu denken, musste eine andere Lösung her.

Wittkamp schaltete auf einem Handwerkerportal eine Anzeige, in der er sich als Mitglied eines Vereins ausgab, der sich um die Pflege des Landwehrkanals kümmert. Für 149 Euro übernahm jemand die Aufgabe und befreite den Weg von seinem Schaden – und Wittkamp von seiner größten Sorge. Zumindest vorläufig.

Zwangskranke fühlen sich oft verantwortlich für die Sicherheit anderer

Peter Wittkamp tut so etwas nicht aus Langeweile. Auch nicht, weil er es für seine Pflicht als ordentlicher Bürger hält. Der 38-Jährige leidet an Zwangsstörungen. Gerade hat er sein viertes Buch veröffentlicht, „Für mich soll es Neurosen regnen“. Darin beschreibt er die Krankheit und seinen Alltag mit ihr, der vor allem bestimmt ist von der Angst, dass anderen Leuten aufgrund eigener Nachlässigkeit etwas passieren könnte.

Das betrifft neben dem ständigen Kontrollieren von Herd oder Wasserkocher auch die Sicherheit von Geh- und Radwegen. Eine gerade in Berlin uferlose Angelegenheit. Auf dem Weg zum mittlerweile zubetonierten Loch am Paul-Lincke-Ufer bleibt Wittkamp mehrmals stehen und möchte am liebsten zwei Fußplatten zur Seite schieben, die mitten auf dem schlecht beleuchteten Gehweg liegen. „Aber ich mache das jetzt nicht“, sagt er fast stolz und geht weiter.

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Seit einiger Zeit macht er eine Therapie. Auch darin geht es in dem Buch: um den Versuch, den Zwang zu besiegen. Oder zumindest auszutricksen. Das klappe mittlerweile oft ganz gut, sagt der Autor. „In meinen schlimmen Phasen hätte ich diese Fußplatten nicht liegen lassen können.“

Wittkamp schrieb Gags für Böhmermann und Heufer-Umlauf

Neben dieser nötigen Ernsthaftigkeit mangelt es Wittkamps Erzählungen über seine Krankheit und den alltäglichen Wahnsinn, der mit ihr einhergeht, nicht an Humor. Der Mann ist nämlich, trotz oder wegen der Neurosen, da ist er sich nicht ganz sicher, sehr lustig. Er ist Hauptautor der „Heute Show online“, hat bereits Gags für Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf geschrieben. Für den Tagesspiegel verfasste er einen Text über den Berliner Winter.

Für alle in Berlin Lebenden ist die Wahrscheinlichkeit, schon mal über einen seiner Sprüche gelacht zu haben, sehr hoch: Wittkamp ist mitverantwortlich für die erfolgreiche BVG-Kampagne #weilwirdichlieben, die es geschafft hat, die BVG von einem ollen Verkehrsbetrieb zu etwas Kultigem zu machen – mit Witzen über Verspätungen, Horden von aufeinanderfolgenden M29er-Bussen und über die U8 allgemein. Der eigenen Unzulänglichkeit mit Ironie begegnen: das gleiche Mittel, das Wittkamp auch in seinem neuen Buch anwendet.

[„Für mich soll es Neurosen regnen. Mein Leben mit Zwangsstörungen“, 318 Seiten, erschienen im bgb-Verlag 2019. Am Dienstagabend liest Wittkamp bei „Nagel mit Köpfen“, einer Veranstaltungsreihe von Thorsten Nagelschmidt in der Fahimi Bar, Skalitzer Straße 133, um 20.30 Uhr, der Eintritt kostet 12 Euro. Außerdem ist er am 15. Januar bei „Literatur live“ im Pfefferbergtheater zu sehen, ab 20 Uhr, Tickets kosten 11/ 13 Euro.]

Gemeinsam mit einem Kollegen betreute er auch bis Anfang 2018 die Social-Media-Kanäle der Kampagne. Beschwerten sich Fahrgäste beispielsweise auf Twitter über Verspätungen am Tag nach einem heftigen Sturm, antworteten die beiden im Namen der BVG mit Sätzen wie: „Bäume sind nicht wie Betrunkene. Wenn die abends umfallen, stehen die nicht am nächsten Morgen auf und gehen nach Hause.“

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Mit der Kampagne hat Wittkamp zahlreiche Preise gewonnen, wurde zu einem gefragten Texter. Die BVG mag er aber noch aus einem anderen Grund: „Wenn ich im Bus sitze, kriege ich nicht mit, was auf dem Geh- oder Fahrradweg passiert.“

Übertrieben und sinnlos: „magisches Denken“

Ein weiterer Zwang, der Wittkamp ständig begleitet, ist das sogenannte „magische Denken“. Dabei, erklärt der Autor, entstehen Verknüpfungen von zwei Dingen, die absolut nichts miteinander zu tun haben, zum Beispiel: „Wenn ich diesen Gegenstand berühre, stirbt jemand, den ich mag“, oder „Wenn ich die Zigarette nicht genau fünfmal ausdrücke, gibt es einen Brand in meiner Wohnung“.

Zwar machen auch Menschen ohne Zwangsstörung manchmal zusammenhanglose Dinge, wie dreimal auf Holz zu klopfen, damit nichts Schlimmes passiert; man nennt das Aberglaube oder Marotte. Der Unterschied bei einem Zwangskranken ist, dass es ihm kaum möglich ist, gegen die Handlung anzukämpfen – auch, wenn er sie selbst als völlig übertrieben und sinnlos empfindet.

Der Zwang ist ihm oft peinlich

Und das tut Wittkamp. Deshalb sind ihm die Dinge, zu denen der Zwang ihn bringt, oft sehr peinlich. Bis zur Veröffentlichung des Buches hätten die Wenigsten in seinem Umfeld von der Krankheit gewusst. „Das war sehr anstrengend“, sagt er, „ich musste oft Ausreden erfinden, warum ich irgendwas tue, zum dritten Mal zurück in die Wohnung gehen zum Beispiel.“

Deshalb empfiehlt er auch anderen Menschen mit Zwangsstörungen, zu versuchen, offen darüber zu reden – und sich therapeutische Hilfe zu suchen. Vielleicht hilft aber auch dem ein oder anderen schon sein Buch. Mit Fachwissen und dem Versprechen, dass man nicht allein ist. Vor allem aber mit der Erkenntnis, dass selbst die ätzendsten Dinge im Leben mit etwas Humor besser zu ertragen sind.

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