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Berlin: Phillip Kannenberg (Geb. 1979)

Wenn der Sohn vor den Eltern stirbt, ist die Reihenfolge unterbrochen

Phillip ruft vom Auto aus seine Mutter Mathilde an, es ist Dienstag, 19.11 Uhr. Sagt, dass er gerade die Elbe hinter sich gelassen habe, dass es furchtbar neblig sei, anstrengende Fahrt auf der A 9. Die Fortbildung in Bensheim sei gut gelaufen, jetzt freue er sich auf zu Hause und auf den nächsten Tag: erst noch das Seminar nacharbeiten, dann ins Fitnessstudio, abends eine Verabredung, mal sehen. Fahr vorsichtig und komm gut heim, sagt Mathilde.

In der Nacht zum Mittwoch schläft sie kaum und weiß nicht warum. Morgens erreicht sie Phillip nicht, er ruft auch nicht zurück. Vormittags ist ihr, als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen. Sie geht im Haus herum. Sie sind ja weiß wie eine Wand, sagt eine Bekannte, die zu Besuch ist.

Es klingelt an der Tür. Mathilde kommt die Kellertreppe hoch, als ihr Mann aufmacht, blaue Uniformhosen mit Reflektorenstreifen sind das Erste, was sie sieht, sie versteht sofort. Haben Sie einen Sohn, der Phillip Sebastian heißt und am 2. Juli 1979 geboren wurde?

Die beiden Polizisten waren so nett, wie man sein kann, wenn man so eine Nachricht überbringen muss, sagt Mathilde. Sie wollen ihr nicht erklären, wie genau es passiert ist, nicht jetzt. Dafür ist ihnen Mathilde bis heute dankbar.

Seitdem ist jeder Mittwoch schlimm, am schlimmsten aber ist der Dienstagabend zwischen halb acht und neun. Unfallmeldung: 19.38 Uhr. Sterbeurkunde: geborgen gegen 21.00 Uhr.

Später Schnee fällt auf die Kiefern im Garten, dabei ist es für Wolken zu kalt. Im hellen, warmen Wohnzimmer riecht es nach frischem Kaffee, Lothar und Mathilde sitzen auf dem Sofa und fühlen sich wie Statisten in einem schlechten Film. Mathilde spricht viel, weil Sprechen das Schweigen vertreibt, und vielleicht auch, weil es Phillip ein wenig näher holt. Lothar spricht kaum, ihm ist das Zuhören lieber. Man hat das Gefühl, die zwei sind sich nahe.

Weißt du noch, wie Oma und Opa vor Stolz fast platzten, 1979, erster Enkel? Wie Phillip mit einem halben Jahr schon zu groß für den Kinderwagen war, ein Riesenbaby, bei der Einschulung einen Kopf größer als die anderen, auch später ein Mordskerl, ein Meter zwei mit zwei Jahren, 1,93 Meter mit 16, aber dann hörte er auf zu wachsen.

Wie er mit seinen Basketballerfreunden in die Wohnung einfiel, der Flur voller Schuhe Größe 47 bis 50, richtige Kähne, und dazwischen Mathilde mit ihren 1,56 Metern, wie sie inmitten all der Langstangen versank, bis Phillip, den sie „Kanne“ nannten, sie an den Schultern hochhob und zur Seite stellte, einfach so, ohne Anstrengung, so eine unverschämte, liebevolle Geste, weißt du noch?

So was geht Mathilde und Lothar in diesen Tagen durch den Kopf, unwillkürlich, wenn sie nachts wach liegen, wenn sie im Wohnzimmer sitzen oder spazieren gehen. Manchmal ruft sich Mathilde die Bilder auch absichtlich vor Augen, sie zerrt sie hervor, mit aller Kraft, weil sie die anderen Bilder vertreiben, kurz.

Donnerstagfrüh, Titelseite der „B.Z.“: „2 Tote, 9 Schwerverletzte auf der A9 – Die Nebel-Falle bei Berlin“, daneben ein Foto von Phillip, darunter: „Unfall-Opfer Phillip K.“ Um dem Buchstaben des Gesetzes Genüge zu tun, kürzen sie seinen Nachnamen ab. Und setzen gleichzeitig alles daran, seine Identität offenzulegen: „Der Berliner Medizintechniker Phillip K. (32) starb in den Trümmern seines Dienstwagens (Opel Insignia).“ Dass Phillip noch gar nicht zweifelsfrei identifiziert war, war den Blattmachern egal. Seite 4: Phillip in Großaufnahme, 158 mal 81 Millimeter Zentimeter hoch. Sie haben es von seiner Facebook-Seite geholt, haben es 150 000-mal gedruckt und in ganz Berlin verscherbelt, Phillip gehört doch nicht der „B.Z.“, sagt Mathilde, Philipp gehört nicht in diese Zeitung, Phillip ist bei diesen Leuten in schlechten Händen.

Donnerstagvormittag, Mathilde und Lothar müssen ins Krankenhaus nach Bad Belzig, eine Identifizierung nach Ausweisbild ist nicht möglich. Erst die tiefe Hoffnung, dass er es nicht sein kann. Dann das Entsetzen. Irgendwann ein wenig Trost: Er kann unmöglich gelitten haben.

Weißt du noch, wie er losschrie, damals auf Kreta, als die alte, schwarz gekleidete Frau von ihrem Esel abstieg, dabei wollte sie ihm bloß eine Apfelsine schenken. Und wie sein jüngerer Bruder Simon noch ein Baby war und weinte und ihm Phillip was Gutes tun wollte und ihn fütterte. Mit ungekochten Spaghetti, was leider ins Auge ging.

Bei der Taufe von Simon, gut zwei Jahre alt war Phillip da und schnappte sich die Altarschellen, wie der Teufel ist er gerannt und hat sie läuten lassen, was das Zeug hielt. Weißt du noch die diebische Freude?

Überhaupt, über was der alles lachte, dieser Slapstickhumor: Alle stehen von der Bierbank auf, nur der ganz außen nicht, der fällt runter. Oder der Rechen im Garten, der hochschnellt, weil der Gärtner drauftappt, solche Sachen, da konnte Phillip sich wegschmeißen, der konnte wiehern wie ein Pferd.

Traurig und übermütig zugleich konnte er sein, zum Beispiel bei der Beerdigung seines Opas, als Oma so falsch sang und er sich das Lachen so gewaltsam verbeißen musste, dass es aussah wie tiefste Verzweiflung, und er war ja auch traurig und nachdenklich, aber eben auch fröhlich. So war er.

Lothar sagt, wenn das Kind vor den Eltern stirbt, ist die Reihenfolge unterbrochen. Als sei irgendwo ein Fehler passiert, irgendwem. Und der Pfarrer sagte Mathilde neulich: Ich bin im Moment so stinkig mit dem da oben.

Neulich nimmt Mathilde das Telefon, das muss ich Phillip erzählen, sie wählt die Zwei, die Vier, schaut auf das Gerät in ihrer Hand, was machst du da, er ist ja nicht mehr.

Wie Phillip beim Schwimmen, in der Leichtathletik und beim Basketball Dampf abließ und Kraft aufbaute, wie er im Zehlendorfer Turn- und Sportverein Leichtathletik machte, wie er erst in Zehlendorf, dann in Lichterfelde und in der Berliner Stadtauswahl Basketball spielte, er war Berliner Jugendmeister, Norddeutscher Meister, Ostdeutscher Meister, einmal Deutscher Jugendmeister, und die Spieler-Eltern waren der Fanclub.

Dann die Ausbildung zum Zahntechniker, weniger Zeit für Sport, anschließend Bundeswehr, Fünfte Kompanie des Wachbataillons beim Ministerium der Verteidigung. Vier Jahre protokollarischer Dienst, bella figura in weißen Handschuhen, mit weißer Schärpe und Karabiner, großes Kino beim Großen Zapfenstreich für Staatsgäste vorm Kanzleramt und am Schloss Bellevue.

Auch beim Militär spielte er Basketball, Mannschaft der Air Force North, Turniere in Italien und England. Sein Einsatz beim Elbehochwasser, 36 Stunden nonstop bei Regen Sandsäcke stemmen, Lkw fahren, Verdienstmedaille des Landes Sachsen. Nach seinem Studium der Medizintechnik richtete er im Auftrag einer Dental- und Medizintechnikfirma Zahnarztpraxen ein.

Wie Phillip an Heiligabend nach der Mitternachtsmette mit seinen Kumpels in den „Club 18“ im Studentendorf Zehlendorf weiterzog, er war kein Kind von Traurigkeit. Wie er während der Fußball-WM Gäste der Fifa aus aller Welt betreute.

Wie er seiner Mutter, wenn er in den Urlaub fuhr, haarklein aufschrieb, wie seine Zierbarsche zu füttern seien, alle zwei Tage Mückenlarven, dazwischen Trockenfutter, Frischwasseraustausch hat alle 14 Tage zu erfolgen, Wasserauffüllung jeden zweiten Tag. Wie eine seiner Freundinnen mal ins Wasser fasste, parfümierte Handcreme an der Hand, desaströser pH-Wert, Fische tot.

Wenn abends jemand klingelt, ist es nicht Phillip, der auf seinem Weg von der Arbeit nach Hause schauen will, was auf dem Herd und im Kühlschrank an Essbarem steht. „Wie geht’s Phillip?“, fragte neulich der Gärtner, der es nicht besser wusste. Und im Supermarkt fing eine Frau zu weinen an, als sie Mathilde sah. Die musste mitweinen, aber es tat ihr nicht gut. Sie geht den Leuten aus dem Weg zurzeit.

Du schaffst das, hat ihr Phillip immer wieder gesagt, als sie Krebs hatte. Jetzt sagt sie sich: Ich bin es Phillip schuldig, dass ich nicht zugrunde gehe. Dass ich es wegschmeiße, das wäre nicht in seinem Sinne.

Weißt du noch, sein Lebens-Ja. Diese Freude an der Bewegung, sein Körpergefühl, sein Teamgeist, seine Loyalität zu Freunden, diese ganze gute Art. Diese Selbstverständlichkeit, mit der er sein Leben genoss, die Grinsebacke.

So war das, sagt Lothar. Tut weh, daran zu denken. Aber gut tut es auch. Weil es ein gelingendes Leben war, ein gelungenes Leben. Andreas Unger

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