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Berlin: Phönix aus der Brache

Vom Niemandsland zum lebendigen Viertel – eine Bauzeit voller Ereignisse und am Ende ein erfülltes Versprechen

BERLINS NEUES ZENTRUM – FÜNF JAHRE POTSDAMER PLATZ

Am Anfang war das Brachland. Bäume, Kaninchen, Unkraut, dazwischen einsam aufragend das alte Weinhaus Huth, ein Stück weiter das alte Hotel Esplanade. Ein unwirkliches Stück Gegend, das sich wohl nur erfahrene Stadtplaner als Mittelpunkt einer künftigen City vorstellen konnten. Daran änderte sich erst einmal wenig, als am 11. Oktober 1993 mit dem Bau begonnen wurde, denn diese Arbeit führte zunächst in die Tiefe der Baugruben. Zur Grundsteinlegung der Debis-Zentrale am 29.Oktober 1994 stellten die Veranstalter ein paar Papphäuser ins Gelände, doch die dienten eher dem Lokalkolorit als der architektonischen Veranschaulichung. Edzard Reuter stiefelte zwischen Akrobaten und Feuerschluckern in die neun Meter tiefe Grube und versprach ein „echtes, humanes, urbanes Stadtquartier“, Eberhard Diepgen hielt eine Rede. Dann rief der Polier „Nichts wie ran“ und mauerte den Grundstein zu. Der Bau begann.

Für die Berliner erst einmal keine große Sache. Zu sehen gab es ja allenfalls etwas vom Dach der knallroten Info-Box, denn die Zäune waren hoch, die Gruben tief. Aber wer mit der U-Bahn zum Gleisdreieck fuhr und das schöne neue Wort „Baustellenlogistik“ gelernt hatte, der konnte sich schon beim Anblick der riesigen Baustoffhalden südlich des Landwehrkanals leicht ausmalen, dass es hier nicht um Häuslebauen ging. Als Helmut Kohl 1995 ebendort den Spaten für den Bau des Nord-Süd-Tunnels schwang, wurde die Lage immer unübersichtlicher; nur noch Experten wussten, was gerade wo gebaut wurde. Laien wunderten sich allenfalls darüber, dass ein rumpelndes Förderband Berge von Schutt quer über den Landwehrkanal auf Lastkähne häufte. Die sorgfältig geplante Trennung von Logistik und Alltag funktionierte so gut, dass das von Experten präzise vorhergesagte Verkehrschaos ausblieb – eine der vielen Überraschungen am Rande der damals größten Baustelle Europas.

Doch bald war es nicht mehr nötig, den Blick nach unten in tiefe, mit Grundwasser gefüllte Gruben zu richten. Nach und nach folgten den Planern und Architekten die richtigen Bauarbeiter, aus dem Schlamm wuchsen die Gebäude, und parallel nahm auch die Öffentlichkeitsarbeit Fahrt auf. Die Kräne hatten die Hauptlast dieser Arbeit zu tragen: Ein erster Höhepunkt der inszenierten Baustelle war das Lichtprojekt des Künstlers Gerhard Merz – die planmäßige Erzeugung von Bildern, die gefälligst um die Welt zu gehen hatten. Sie taten es: Merz hängte für die Dauer von zwei Wochen an den Masten von elf Kränen Leuchtstoffröhren auf, deren unvorhersehbare Bewegung ein faszinierendes Lichtspiel ergab. Riesige Technotänzer im Niemandsland: nach dem Willen des Künstlers eine späte Erinnerung an den maschinengläubigen Futurismus der späten Zwanziger.

Die Häuser wuchsen weiter. Im Sommer 1996 näherte sich das Debis-Hochhaus, der von außen am besten sichtbare Außenposten der Großbaustelle, seinem Gipfelpunkt im 20. Stock, während das Musicaltheater nebenan noch in der Grube verharrte. Die Staatsbibliothek kehrte dem ganzen Rummel den Rücken zu, verächtlich, wie es schien, und irgendwo mittendrin verharrte das Weinhaus Huth mitsamt den Bäumen der alten Potsdamer Straße im Schutz hoher Betonwälle. Hinter den Bauzäunen, im Inneren des Areals, wuchsen auch so seltsame Gebilde wie die Kugel des Rundum-Kinos. Schon im Frühjahr 1996 war drüben auf dem Sony-Areal die tolldreiste Verschiebung des Esplanade-Kaisersaals problemlos über die Bühne gegangen, und auch die geschäftlichen Aspekte schienen allgemein im Lot: Einen „Supervermietungsstand“ meldete die Vermietergesellschaft 1996.

Zum Richtfest mussten dann noch einmal die Kräne ran. Daniel Barenboim persönlich dirigierte ihren schwerfälligen Tanz mit dem Taktstock. Ein Jahr später, der Debis-Bau näherte sich seiner Fertigstellung, konnten die werbewirksamen Lustbarkeiten bereits drinnen stattfinden: Haydns „Schöpfung“, dargeboten von Helmut Rillings Bachakademie, wurde zum sinnfälligen Höhepunkt.

Stichtag: 2. Oktober 1998. Eröffnung! Anderthalb Millionen Besucher kamen in den ersten drei Tagen, ergossen sich in die zehn neuen Straßen, probierten die Cafés und Restaurants aus, schnupperten an den Geschäften, die für Berlin so überhaupt nicht Neues oder Exklusives boten, aber vielleicht gerade deshalb zügig angenommen wurden. Bis heute nutzen täglich 70 000 bis 100 000 Menschen die Attraktionen des Geländes oder marschieren einfach nur durch auf dem Weg zu U- und S-Bahn. Den Innovationen auf der Sony-Seite ging es schlechter: Die aufwendige „Music Box“ zog nicht wie erwartet und wurde nach nur einem Jahr Betriebsdauer wieder zugeklappt. Doch das schadete dem Areal unter dem Fujiyama-Dach insgesamt nicht: Es hat sich nicht nur als Touristentreffpunkt etabliert, sondern auch als Schauplatz fröhlich-volkstümlicher Masseninszenierungen beispielsweise zur Fußball-WM.

Fünf Jahre Dauerbetrieb haben bewiesen, dass Stadtteile aus der Retorte nicht automatisch zu sterilen Architekturausstellungen degenerieren müssen. Die Planer haben Edzard Reuters Versprechen erfüllt: Grund zum Feiern.

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