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Berlin: Platten und Pagoden

Unbekannt und oft verkannt – mit Marzahn verbinden die meisten Berliner viel Beton und soziale Probleme Doch der Bezirk hat auch prächtige Parks, asiatische Märkte und andere überraschende Seiten

Sie tragen alle Gummistiefel. Egal ob sie Professor sind, Verkäuferin, Arbeiter oder Polizist, sie waten mit fröhlichen Gesichtern durch den Matsch zu ihren neuen Wohnungen. Ihr Traum handelt von Gleichheit, von Solidarität, er heißt Marzahn und er ragt hoch in den Himmel. „Richtkrone steig auf das neue Haus! Sollen Rosen leuchten . . . sollen Kinder spielen, soll die Liebe blühn. Hoch dem Sozialismus, überall und hier!" besingt Staatsdichter Helmut Baierl 1977 die Großbaustelle Marzahn.

Millionen Wohnungen fehlen damals in Deutschland West wie Ost. In der DDR wollte man die „Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990" lösen. So entsteht ab 1976 auf den Äckern bei Biesdorf die größte Baustelle Europas. Im Stundentakt werden neue Behausungen fertig: 70 Quadratmeter Komfort, Heizung und Warmwasser, dazu mehr Luft, mehr Grün. Rosen und Sozialismus. Marzahn ist das aus Betonplatten eilig zusammengesetzte Versprechen, den Hinterhöfen in Prenzlauer Berg zu entkommen – das „Kind der Republik", ihr ganzer Stolz.

Und heute? Es ist wenig geblieben von der Utopie. Marzahn ist seit Jahren ein Ort, den viele zu kennen meinen, aber noch nie gesehen haben. Warum auch dorthin fahren? In den Medien kommt Marzahn meist als Problembezirk vor. Ausländerfeindlichkeit, Jugendgangs, Zigarettenmafia. Die Hoffnung von damals scheint ziemlich heruntergekommen, das Image ist schlecht. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?

Wer etwas von dem Lebensgefühl der Menschen in Marzahn erspüren will, muss an den Rückseiten der Hochhäuser entlanggehen. Zum Beispiel an der riesigen Allee der Kosmonauten, die so heißt, seit die Raumfahrer Sigmund Jähn und Waleri Bykowski sie im Jahr 1977 besuchten. An der Vorderseite tost der Verkehr. Doch nach hinten raus ist es still wie auf dem Dorf - ironischerweise dank der hohen Betonwände, die den Lärm schlucken. Von den bunten Balkonen an der Rückfront schauen viele Marzahner auf prächtige Parks mit viel Raum für Kinderspiele.

Es geht fast überall gemächlich zu, übersichtlich. Man ist in der Vorstadt, weit weg vom Zentrum. Die Rasenflächen sind ordentlich gemäht. Selbst der Helene-Weigel-Platz, an dem zu DDR-Zeiten mit Pomp der „Tag der Republik" gefeiert wurde, strahlt am Wochenmarkt freizeitmäßige Ruhe aus. Schlendern, einkaufen, Eis essen, in der Sonne sitzen. Hier ist es so still, wie in der Einfamilienhaus-Siedlung, die hinter den Hochhäusern an der Allee der Kosmonauten beginnt: hohe Hecken, kleine Tempel des Individualismus. Auch das ist Marzahn.

Sozialpolitisch gehört der Bezirk allerdings zu den Verlierern. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf fast 20 Prozent gestiegen, nirgendwo in Berlin sind 2003 so viele Sozialhilfeempfänger hinzugekommen wie in Marzahn-Hellersdorf. Und wer es sich leisten kann, zieht das Eigenheim im nahen Brandenburg der Mietwohnung vor – und zieht weg. 14 Prozent aller Wohnungen stehen leer. Zurück bleiben sozial Schwache, Ältere und 25 000 Ost-Aussiedler, die nach Marzahn gekommen sind. 180 000 Menschen lebten 1988 im Bezirk, heute sind es 50 000 weniger.

Besonders betroffen ist der Nordwesten am S-Bahnhof Ahrensfelde. An der Havemann-Straße betrug der Leerstand bis zu 60 Prozent. Jetzt versucht die Wohnungsgesellschaft Marzahn dort einen radikalen Neuanfang: kein Totalabriss, stattdessen wird verkleinert, mehrere Stockwerke tragen die Kräne ab. Dabei erweist sich die Platte als so wandlungsfähig, dass man fast an Legosteine denken mag. Von 1600 bleiben 409 Wohnungen, neu entworfen mit großzügigen Grundrissen und Terrassen. Aus Hochhäusern werden Drei- bis Sechsgeschosser. Wohnungen für Besserverdienende im sozialen Brennpunkt: ein gewagtes Projekt. Doch die ersten Mieter sind eingezogen und für die Dachgeschosse gibt es lange Wartelisten.

Wohnen im Grünen, ein paar S-Bahn-Minuten vom Alex entfernt. Die üppige Natur ist das Kapital des Bezirks. Noch haben die Marzahner ihre Parks meist für sich allein. Wer kennt schon das romantische Wuhletal? Nur in die „Gärten der Welt“ kamen 370 000 Besucher im vergangenen Jahr, um sich nach China, Japan und Bali entführen zu lassen.

Der Blick nach Osten, auch das ist Marzahn. Sinnbildlich stehen am Eingang des China-Gartens ein Stück Berliner Mauer und ein chinesischer Löwe . Die Vietnamesen, einst als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen, prägen bis heute das Straßenbild, obwohl nur 900 offiziell hier leben. Und im russischen Supermarkt „Centa" kaufen Aussiedler extrasüße Pralinen oder Pelmeni. Vom munteren Mulikulti in Marzahn mag aber niemand sprechen. Dafür tut sich der Bezirk zu schwer mit den Fremden, gibt es zu viel Feindseligkeit , besonders zwischen deutschen und russlanddeutschen Jugendlichen. „Immerhin“, sagt der Integrationsbeauftragte Alexander Reiser, „der offene Krieg ist vorbei. Es herrscht Waffenstillstand.“.

Da, wo 1976 alles angefangen hat, wo die Richtkrone für das erste Hochhaus steht, in der Marchwitzastraße 43, blühen heute tatsächlich die Rosen. Und Kinder spielen. Etwas ist doch wahr geworden vom Dichterspruch, vom Traum der Vergangenheit. Auf junge Familien aus der engen City hoffen jetzt die Marzahner Politiker. Sie versuchen, sie mit günstigen Mieten und individuellen Grundrissen zu locken. Vielleicht bringt ihnen der Frangipani-Baum im Bali-Garten Glück. Er gedeiht gut in Marzahn, seine Blüten sollen magische Kräfte haben. Auf Hawaii werden sie den Neuankömmlingen zum Willkommenskranz gebunden.

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