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Berlin: Plötzlich war die Welt ganz anders

Nischt wie rüber: Der erste Ausflug in den Westen am 10. November 1989

Heute vor 13 Jahren war wirklich der Teufel los: Wir da drüben standen in der vorletzten Schlange unseres Lebens an den Grenzübergangsstellen („Güst“), jeder wollte rasch den am Tag zuvor noch unerreichbar scheinenden Genehmigungsstempel „für mehrmalige Ausreise aus der DDR“ in seinen kleinen blauen Personalausweis bekommen. Die Stimmung war nicht so ungläubig-euphorisch wie in der Nacht des 9. November 1989, als Schabowskis unbeabsichtigte (?) Mitteilung zur sofortigen Ausreise vom gemeinen Volk wortwörtlich genommen und die anschwellende Menge gen Westen schließlich „geflutet“ wurde – nein, die meisten hatten ja erst am nächsten Morgen staunend begriffen, welch historische Nacht sie da verschlafen hatten.

Egal. In der Friedrichstraße jedenfalls herrschte vor den Schaltern der Grenzmenschen, die bis dahin mit dem Ein- und Auslass der schwarzen Limousinen des Diplomatischen Corps am Checkpoint Charlie ausreichend zu tun hatten, eine erwartungsvolle Fröhlichkeit. Endlich! Dass man das noch erleben darf! Wie lange das wohl gut geht? Nischt wie einmal rüber, gucken, ein Stückchen Freiheit genießen, im überschwänglichen Omnibus den Ku’damm rauf und runter fahren, vielleicht ein West-Bier trinken, mit den anderen -zigtausend „Wahnsinn!“ rufen – und wieder zurück.

Damals bat mich eine West-Berliner Zeitung um einen Beitrag zum deutschen Frühling im November– und da steht, was ich vor 13 Jahren fühlte: „Es ist wie ein Traum. Da steh ich nun an der Wollankstraße in Pankow in einer lachenden Menge, die jedes Mal, wenn ein Betonelement aus den Fugen gerissen wird, im Takt Beifall klatscht. Lichter haben sie ringsum in die Fenster gestellt, ein paar Kinder halten Wunderkerzen in den Händen, eine Frau geht auf die Grenzer zu und steckt ihnen eine Blume ins Knopfloch, ein Polizist schleppt das Schild „Grenzgebiet! Vorsicht! Nicht weitergehen!“ unterm Arm davon und meint, fast entschuldigend: „Als Souvenir für meine Datsche“. Alle lachen, und einer sagt: „Det müsste der Baumeesta von det allet seh’n“. Der Baumeister liegt irgendwo in einem Bett und ringt nach Luft. Ich atme tief durch. Drüben fährt die S-Bahn. Morgen sitze ich drin. Oder in dem Flugzeug da oben. So ist das also: frei sein“.

Dreizehn Jahre später zergrübelt man sich den Kopf bei der Suche nach sichtbaren Erinnerungen an die Nacht der Nächte und die Zeit des Aufbruchs, die danach über uns kam. Schließlich fand diese Explosion und Revolution in einem hoch gerüsteten Gemeinwesen statt, aber, o Wunder, ohne einen Schuss und ohne den kleinsten Kratzer. Der 17. Juni war fern, Gorbatschow nah. Aber wo ist denn nun das Denkmal? Auf dem Alex wird wenigstens auf einer Schrift-Bild-Tafel an die große Kundgebung des 4. November neunundachtzig erinnert. Aber zum 9., diesem deutschen Schicksalstag? Nichts Großes.

Vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Wie will man Erinnerungen verallgemeinern, einfrieren oder konservieren? Jeder Deutsche in Ost und West kann lange davon erzählen, wie und wo er vom Mauerfall erfahren hat. Und jeder, der hernach den aufrechten Gang zu lernen begann, hat, bis heute, seine eigene neue Lebensgeschichte auf jenem Gleis, für das am 9. November die Weiche gestellt wurde. Natürlich gibt es auch ganz andere, negative Beispiele beim Umgang mit den Mühen der Freiheit, die vor uns lagen und aller Mühen wert waren, wie es Friedrich Schorlemmer nennt. Vielleicht haben wir heute einen Moment Muße zur Erinnerung an eine wilde Zeit, deren Chaos ebenso aufgebraucht ist wie die Utopie vom Schlaraffenland.

Die Rückbesinnung findet im Kopf statt. Wenn im Fernsehen stundenlang die Bilder grenzenloser Freude Gänsehaut erzeugen. Oder wenn man sich die drei Videos vom Mauerbau bis zum Mauerfall von der Berliner Regisseurin Beate Schubert anschaut – dann sind die Tränen wieder nah, das tiefe Durchatmen und das unbeschreibliche Gefühl von damals, heute vor 13 Jahren.

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