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Meister ihres Fachs. Mitglieder unserer Redaktion haben schon bei Poetry Slams gewonnen (Abbildung ähnlich). Foto: pa/dpa

© picture-alliance/ dpa

Berlin: POESIESCHLAMM

Nein, liebe Leserinnen und Leser, auch wir konnten uns in der letzten Woche dem Youtube-Clip mit der liebreizenden Slam-Poetin Julia Engelmann nicht entziehen. In dem Video, das zuletzt in den einschlägigen sozialen Netzwerken die Runde machte, sieht und hört man die junge Frau etwa fünf Minuten lang vor Publikum mit vielen genretypisch grob gereimten und rhythmisierten Worten im wesentlichen „Carpe diem“ sagen und sich dabei zur „poetischen“ Aussage, Mut sei „ein Anagramm von Glück“, versteigen.

Nein, liebe Leserinnen und Leser, auch wir konnten uns in der letzten Woche dem Youtube-Clip mit der liebreizenden Slam-Poetin Julia Engelmann nicht entziehen. In dem Video, das zuletzt in den einschlägigen sozialen Netzwerken die Runde machte, sieht und hört man die junge Frau etwa fünf Minuten lang vor Publikum mit vielen genretypisch grob gereimten und rhythmisierten Worten im wesentlichen „Carpe diem“ sagen und sich dabei zur „poetischen“ Aussage, Mut sei „ein Anagramm von Glück“, versteigen. Es gibt nun Leute, die sie dafür als Stimme einer Generation feiern. Es gibt Leute, die sagen: „Kotz! Kitsch!“ Und es gibt uns, die diese Steilvorlage sofort in jenes Tor schießen, auf dem groß „Berlin“ steht:

Eines Tages. Baby. Werden wir Stadt sein. Baby. Werden wir Stadt sein, fix und fertig, und an all die Geschichten denken, die wir nicht mehr erzählen können.

Eines Tages. Baby. Eines Tages werden

in Schönefeld Airbusse fliegen und Dreh-

kreuzumsteiger auf Massagesesseln liegen. „Wir sind jung, und ham’ viel Zeit, warum soll’n wir was riskieren“, werden sie sagen, Baby, wenn du sie fragst, wieso sie hier liegen, anstatt es zu wagen, den S-Transrapid zum Alex zu kriegen – zehn Minuten hin, zehn zurück, pures Glück: instantmäßig Berlin erleben, um irgend-

was später an Enkel weiterzugeben.

Denn eines Tages. Baby. Werden wir Stadt sein. Baby. Werden wir Stadt sein und da wird kein Bein sein, das das Leben uns stellt und das uns zu guten Geschichten quält. Eines Tages. Baby. Eines Tages wird keine U-Bahn mehr zu breit sein für ihre Röhre, und nirgendwo schneit’s rein und nirgendwo höre ich Stimmen, die sagen: „Wo bleibt denn dieser lieder-liche Bus bloß wieder?“ Denn der Bus war schon da, und an keinem Haar hängt Tau und schau: Selbst der Berliner Winter ist jetzt angenehm mau und flau.

Denn eines Tages. Baby. Eines Tages werden wir Stadt sein und ungeheuer satt sein. Und keiner macht’s kaputt, denn Ahnherr, dumm, tot ist ein Anagramm von Hartmut Mehdorn. Und keiner spricht und bricht so mit der schönen Stille, denn waise Wortluke ist ein Anagramm von Klaus Wowereit. Und bockend schriller – ein Anagramm von Drecksloch Berlin – geht’s immer weiter, und alles ist so schrecklich heiter, und bald fix und fertig und das bewert’ ich gar nicht mal so positiv: Denn wo sie schlief, die faule Pottsau Berlin, ist jetzt das Kraftzentrum der effizienten Monstererleber von allem und jeder Ekstase und ich blase zum Rückzug aus dem Streben nach diesem schaurig- schönen neuen Leben.

Denn eines Tages. Baby. Werden wir Stadt sein. Oh Baby. Werden wir Stadt sein und an all die Geschichten denken, die wir zum Glück grad erleben.

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