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Analyse: Wie Berlin mit den Gewaltattacken umgeht

Zwei Gewalttaten durch junge Männer innerhalb von 24 Stunden in Berlin heizen die Diskussion um Jugendgewalt und ihre Ursachen an. Schon nach einer Attacke vor zwei Monaten hatten Politiker mehr Sicherheit auf den U- und S-Bahnhöfen gefordert.

Welche Rolle spielt das Thema im Berliner Wahlkampf?

Nach dem Überfall auf einen 30-Jährigen im Februar am Bahnhof Lichtenberg wurde die Wiedereinführung der Doppelstreifen aus BVG und Polizei beschlossen. Sie war vor Jahren mangels Effizienz abgeschafft worden. Die Neuauflage sei aber „allenfalls halbherzig“, monierte CDU-Chef Frank Henkel am Ostermontag. „Das erweckt den Eindruck einer Wahlkampf-Alibi-Aktion“. Die Linke Marion Seelig sagt, „dass Personal auf Bahnhöfen der beste Schutz ist“. Videoüberwachung diene eher der Aufklärung als der Prävention. Die Forderung nach mehr Personal zieht sich durch alle Parteien – auch wenn die CDU dabei eher an Polizisten als an BVG-Mitarbeiter denkt.

Die innere Sicherheit ist seit Jahren das Kernthema des CDU-Spitzenkandidaten. Henkel betont, er werde keinen Wahlkampf „auf dem Rücken von Opfern führen“. Aber das Land habe bei dem Thema noch viel zu tun: Über abschreckende Arrestierungen und Fahrverbote müsse ebenso diskutiert werden wie über die möglichst konsequente Anwendung des Erwachsenenstrafrechts für 18- bis 21-jährige Täter. Die Strafe müsse umgehend folgen. Über Jugendarbeit müsse erreicht werden, „dass Gewalt uncool ist“. Nicht nur in diesen Punkten ähnelt sich die Auffassung von CDU und Grünen. Selbst bei der Videoüberwachung gehen die Positionen nicht mehr so weit auseinander wie früher – auch wenn der Grüne Benedikt Lux betont: „Die Leute haben verstanden, dass mehr Video und mehr Polizei nicht die alleinige Antwort sein kann.“

Die Berliner SPD hat mit Innensenator Ehrhart Körting einen Routinier im Senat, dessen Mischung aus Besonnenheit und Härte überparteilich geschätzt wird. Dass sich die Täter so schnell gestellt haben, sieht Körting als Erfolg der Videoüberwachung: „Sie sind gefasst, weil sie wussten, dass sie erkannt werden würden.“ Henkel jedoch greift den SPD-Mann wegen dessen Auffassung an, dass die 24-stündige Speicherung von Kamerabildern ausreiche: 2010 seien die Aufzeichnungen nach Straftaten in 60 Fällen schon vor dem Zugriff der Polizei gelöscht gewesen, beklagt Henkel.

Werden die Jugendlichen tatsächlich immer brutaler?

Jugendliche und Heranwachsende bilden regelmäßig rund ein Viertel der nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfassten Tatverdächtigen. Gerade die Jugendgewalt aber ist statistisch rückläufig. „Besonders signifikant ist – wie schon in den Vorjahren – der erneute Rückgang bei den jugendlichen Tatverdächtigen im Alter von 14 bis 18 Jahren“, stellte das Bundeskriminalamt bei der Vorstellung der PKS 2009 fest. Zurückgegangen sei hier insbesondere die Anzahl der Tatverdächtigen bei der Gewaltkriminalität um fast neun Prozent sowie bei der darin enthaltenen gefährlichen und schweren Körperverletzung um 9,4 Prozent. Die PKS beleuchtet nur einen Ausschnitt des sogenannten Hellfelds, also jener Taten, die von der Polizei erfasst worden sind. Allerdings verzeichnen auch sogenannte Dunkelfeldstudien schwindende Gewalt. Ergebnisse bekommt man hier, indem man etwa mögliche Täter- oder Opfergruppen befragt. Zudem sprechen noch andere Forschungen für weniger Gewalt, etwa eine vom Innenministerium beauftragte Jugendstudie von 2009, nach der die Zahl von Verletzungen nach Raufereien um fast ein Drittel gesunken sei. Viele Kriminologen sind deshalb dagegen, die Strafen für Jugendliche zu verschärfen oder das Alter der Strafmündigkeit – bisher 14 Jahre – herabzusetzen.

Wie entsteht aber der Eindruck, Jugendgewalt sei ein wachsendes Problem?

Die Politik schwankt, das Thema aufzugreifen – die berühmten einfachen Lösungen gibt es nicht. Dafür widmen sich die Medien ihm umso mehr. Spektakuläre Fälle – und vor allem spektakuläre Bilder – erzeugen Bedrohungsgefühle oder bestätigen Haltungen, die man zu Fragen von Erziehung, Bildung, Jugend, Ausländern, Justiz oder Strafen schon immer hatte. Nicht nur die Fälle aus Berlin prägen das Bild. Im Mai 2010 hatte ein 16-jähriger Intensivtäter aus nichtigem Anlass einen 19-Jährigen in Hamburg erstochen, auf dem zentral gelegenen S-Bahnhof Jungfernstieg. Die Grund- und Anlasslosigkeit ist es, die besonders empört. Dass es allerdings für Jugendgewalt früher gewichtigere Gründe oder Motive gab, ist nicht belegt. Auch die Einschätzung, es werde rücksichtsloser oder brutaler geschlagen oder getreten, ist stark von individuellen Einstellungen und Erfahrungen geprägt.

Reagiert die Justiz zu lasch?

Richter und Staatsanwälte haben keinen politischen Auftrag. Sie können die gesetzlichen Spielräume jedoch mehr oder weniger ausschöpfen. Hier zeigt sich in den letzten Jahren eher ein Trend zur Härte, der sich etwa darin zeigt, bei brutalen Gewalttaten – wie jetzt in Berlin – einen Totschlagsvorsatz anzunehmen. Die Richter müssen jedoch jeden Einzelfall genau bewerten. Entscheidend ist dafür nicht nur der Tatablauf, sondern auch Vorgeschichte und Hintergründe. Im veröffentlichten Video fällt auf, dass das spätere Opfer auch auf den Täter zugeht und die Arme hebt, bevor der 18-Jährige zuschlägt. Was genau geschah, tritt oft erst im Laufe einer Hauptverhandlung zutage. Im Mordfall Dominik Brunner, dem „S-Bahn-Helden“ von München, kam beispielsweise später heraus, dass dieser zuerst schlug; auch war er nicht seinen schweren Verletzungen erlegen, sondern einem Herzversagen, was die Justiz zunächst für sich behielt. So werden Meinungen auch stark davon bestimmt, welche Informationen von den Ermittlern herausgegeben werden.

Schaden die Vorfälle dem Berlintourismus?

Der Angriff geschah, während Berlin gerade den nächsten Besucherrekord brach: Mindestens zwei Millionen Gäste waren nach Schätzungen der Tourismusgesellschaft Visit Berlin zu Ostern in der Stadt. „Im Vergleich mit anderen Metropolen gilt Berlin als sehr sicher“, sagte Christian Tänzler von Visit Berlin. Gerade Amerikaner seien in diesem Punkt sensibel, „und da genießt Berlin einen hervorragenden Ruf als sichere Stadt“. Dass der Ruf ausufernder Kriminalität Städten schaden kann, erleben nach Tänzlers Ansicht insbesondere Mexiko-City, Rio de Janeiro und São Paulo. Und als vor ein paar Jahren in den Pariser Banlieues die Gewalt explodierte, „haben sich die Kollegen dort natürlich Gedanken gemacht“.

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