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Neonazis in Kreuzberg: Am U-Bahnhof Mehringdamm eskalierte am Samstag die Situation.

© dpa

Ausschreitungen: Neonazis überrannten Polizisten im U-Bahnhof

Wie kam es zu den schockierenden Szenen von prügelnden Neonazis in Kreuzberg? Bei dem verhinderten Aufmarsch am Samstag verloren Polizisten im U-Bahnhof Mehringdamm die Kontrolle über den rechten Mob.

Nach dem verhinderten Neonaziaufmarsch am Samstag in Kreuzberg ist jetzt klar, dass die Übergriffe der Rechten offensichtlich durch eine folgenschwere Entscheidung der Einsatzleitung ermöglicht wurden. Mehrere Gegendemonstranten waren von Neonazis durch Schläge und Tritte verletzt worden. Wie aus einer Pressemitteilung der Polizei hervorgeht, sollten die Rechtsextremen durch den U-Bahnhof Mehringdamm hindurchgeführt werden, um oben auf der Straße eingekesselte Gegendemonstranten zu umgehen. „Auf dem Bahnsteig überrannten unvermittelt Aufzugsteilnehmer an der Spitze des Aufzuges die Polizeikräfte und erreichten für kurze Zeit unbegleitet die Oberfläche des Mehringdamms“, heißt es weiter. Die 400 eingesetzten Polizisten hatten die Situation am Samstag zeitweise nicht mehr unter Kontrolle. Die Polizei wies Kritik an der Entscheidung zurück. Es habe „ohne den Einsatz von Zwangsmitteln“ gegen die Protestierenden keine andere Möglichkeit gegeben die Neonazis an der Blockade vorbeizuführen.

Innensenator Ehrhart Körting (SPD) verurteilte am Sonntag „das erschreckende Maß an brutaler Gewalt, die von rechtsextremistischen Demonstrationsteilnehmern gegenüber weitgehend friedlichen Gegendemonstranten, unbeteiligten Dritten und eingesetzten Polizeibeamten ausgeübt wurde.“ Bis auf wenige Ausnahmen hätten sich die Nazigegner friedlich verhalten. „So wie diese Demonstration abgelaufen ist, fällt sie nicht mehr unter den grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit.“ Bei künftigen Naziaufmärschen werde der „Gewaltexzess der Rechtsextremisten“ in eine Verbotsprüfung mit einfließen.

Pressebilder zeigen den brutalen Angriff von Neonazis auf am Boden sitzende Gegendemonstranten. Fahrgäste flüchteten in Panik aus dem U-Bahnhof. Vier junge Leute wurden vor den Augen der Polizei von rund 40 Neonazis regelrecht überrannt und verprügelt. Als die Polizei eingriff, schob sie die Angreifer lediglich zur Seite. Festnahmen gab es in dieser Situation offensichtlich keine.

„Die haben gezielt auf unsere Köpfe getreten“, sagt Student Max, der auf dem Foto links neben dem Mann im grauen Pullover auf der Straße liegend zu sehen ist. Ein Rechter habe ihm mehrfach mit der Faust ist Gesicht geschlagen. Auf Tagesspiegel.de ist ein Bild des Studenten mit Platzwunde im Gesicht und zugeschwollenem Auge zu sehen. Mit drei Freunden hatte sich der 30-Jährige spontan auf den Mehringdamm gesetzt, um den Aufmarsch zu blockieren. „Nur drei Polizisten standen da, konnten die Rechten aber nicht stoppen“, sagt er. Als die Angreifer von ihnen abließen, halfen ihnen Passanten zum Bürgersteig und riefen einen Krankenwagen. Die vier Betroffenen wollten noch am Sonntag Anzeige wegen Körperverletzung erstatten. „Unser Anwalt prüft gerade, ob wir auch gegen die Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung vorgehen.“ Zwei seiner Freunde kamen mit leichten Blessuren und Abschürfungen davon, der dritte habe eine Gehirnerschütterung erlitten.

Die Polizei sprach am Sonntag von 36 verletzten Polizeibeamten, von denen sechs vom Dienst abtreten mussten. 46 Personen wurden vorübergehend Festgenommen, wie viele davon Rechtsextreme und wie viele Gegendemonstranten waren, konnte die Polizei nicht sagen. Laut BVG-Angaben wurden die Videoaufnahmen von den Bahnsteigen bereits gesichert.

Eine konkrete Begründung, weshalb die Neonaziveranstaltung bis zuletzt geheim gehalten wurde, so dass Anwohner von dem Aufzug überrascht wurden, war weiter nicht zu bekommen. Die Pressestelle sei nicht verpflichtet Routen von Versammlungen an Journalisten zu geben, hieß es. Das bei jeder anderen Demonstration die Route über die Pressestelle zu erfahren ist, sei lediglich ein nettes Entgegenkommen. Eine Anweisung, den Ort des Aufmarsches auch auf Nachfrage nicht zu nennen, habe es nicht gegeben.

„Ich erwarte vom Polizeipräsident und vom Innensenator eine Erklärung, warum der Aufmarsch vorher nicht bekannt gegeben wurde“, sagte FDP-Innenexperte Björn Jotzo. Mit mehr Transparenz wäre es für die Anwohner nicht zu diesen unvorhersehbaren Entwicklungen gekommen. Jotzo kündigte an, im Innenausschuss „einen detaillierten Bericht“ zu den Geschehnissen zu verlangen. Innenpolitischer Sprecher der Berliner CDU-Fraktion, Robbin Juhnke, wollte sich zu den Ereignissen erst der Auswertung im Innenausschuss äußern. Er forderte aber generell ein „konsequentes Vorgehen der Polizei gegen Gewalttäter, egal ob von Rechts oder Links“.

Als „völlig befremdlich“ bezeichnete Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) die „Geheimhaltungspolitik“ der Polizei. „Ich werde Herrn Körting um Aufklärung bitten, warum ich nicht informiert wurde“, sagte Schulz am Sonntag. Er selbst sei kurz nach dem Durchbruch der Rechtsextremen am Mehringdamm angekommen und sei überrascht über das harte Vorgehen der Polizei gegen die protestierenden Kreuzberger gewesen. „Richtig schlimm war das“, sagte Schulz. Es habe keinerlei Verhältnismäßigkeit oder Zurückhaltung der Beamten gegeben. „Die ganze Einsatztaktik wirft fragen auf“, sagte der Vorsitzende der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Udo Wolf, der auch an den Protesten teilgenommen hatte. Er betonte, dass der Vorfall bei der Verbotsprüfung zukünftiger Anmeldungen berücksichtigt werden müsse.

Der Türkische Bund Berlin Brandenburg bedankte sich bei allen Menschen, die den rechten Marsch blockiert hatten. „Unsere Anerkennung gilt allen, die sich gegen Rassismus und neonazistische Gewalt stellen“, sagte Vorstandssprecher Hilmi Kaya Turan. Die Erfahrungen rechtsextremer Übergriffe in Solingen, Mölln, Hoyerswerda dürften nicht vergessen werden.

Die rechte Szene feiert derweil im Internet den Gewaltausbruch als Erfolg. „Ich finde die Aktion mehr als gelungen“, schreibt ein User in einem Neonaziforum. Unter dem Nutzernamen „Demoleitung“ bedankt sich ein Rechtsextremer bei den „auswärtig angereisten Kameraden“ für die Teilnahme. Der Eintrag erweckt den Eindruck, dass der Durchbruch der Rechten eine vorher geplante Aktion gewesen. „Wir haben taktisch probiert was möglich war“, heißt es dort.

Unterdessen wurde bekannt, dass es in der Nacht zu Sonntag Sonnabend noch einen weiteren Angriff von Neonazis gab. Zwei 28-Jährige wurden gegen 2.30 Uhr von zehn Rechtsextremen an der Tram-Haltestelle Welsestraße in Hohenschönhausen zusammengeschlagen. Die Täter konnten unerkannt flüchten. Der Staatsschutz ermittelt.

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