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Gefühlte Bedrohung: Wird Berlin immer brutaler?

Attacken auf den Straßen und in der S-Bahn machen den Menschen in der Stadt Angst. Aber nicht immer stimmen Gefühl und Statistik überein. Gibt es tatsächlich eine Häufung von Gewalttaten in Berlin?

Viele Berliner sind verunsichert – die brutalen Gewalttaten in den vergangenen Wochen haben die Stadt aufgeschreckt.

Woher kommt das Gefühl der Bedrohung durch Gewalt in der Stadt?

Erst in der Nacht zu Sonntag war am Alexanderplatz ein 20-Jähriger von mehreren unbekannten Tätern derart zusammengeschlagen und getreten worden, dass er am Montag seinen schweren Verletzungen erlag. Schon am Wochenende zuvor hatte es ähnlich brutale Attacken gegeben. Nur wenige Meter vom jetzigen Tatort entfernt war ein 23-jähriger Mann auf dem Bahnhof Alexanderplatz von zwei Unbekannten angepöbelt und niedergeschossen worden. Er erlitt lebensgefährliche Verletzungen. In Schöneberg an der Hohenstaufenstraße wurde ein 22-Jähriger ebenfalls durch Schüsse lebensgefährlich verletzt. Von allen Tätern fehlt derzeit jede Spur. In der S-Bahn gab es in den vergangenen Wochen mehrfach Gewalttaten, bei denen Fahrgäste schwer verletzt wurden. Zudem wurde ein behinderter Fußballfan auf dem S-Bahnhof Olympiastadion brutal angegriffen. Unbekannte schlugen den Mann mit Down-Syndrom und ließen ihn mit seinem eng um den Hals gezogenen Schal zurück, so dass er beinahe stranguliert wurde.

Gibt es tatsächlich eine Häufung von Gewalttaten in Berlin?

Seit Jahren werden in Berlin (und den meisten deutschen Städten) weniger Gewalttaten registriert. Zwar gibt es eine Dunkelziffer, also Taten, die nicht angezeigt worden sind. In der Tendenz sind sich die meisten Experten aber einig, es wird nicht mehr geschlagen oder zugestochen als früher – eher im Gegenteil. Wie in Jahren zuvor hat die Polizei auch 2011 festgestellt: Die Zahl der Körperverletzungen nimmt ab, im vergangenen Jahr um 1472 auf insgesamt 41 771Fälle.

Wie ist es um das subjektive Sicherheitsgefühl bestellt?

Schon weil viele Berliner ahnen, dass die Zahl der tatsächlichen Taten deutlich höher liegen dürfte als die registrierten Fälle, gibt es eine verbreitete Angst vor Gewalt – gerade auf Bahnhöfen und Plätzen. Polizeigewerkschafter hatten deshalb erst kürzlich gefordert, parallel zur Kriminalitätsstatistik eine Studie erstellen zu lassen, zu der Berliner nach ihrem subjektiven Sicherheitsgefühl gefragt werden. In den USA oder Großbritannien würden solche Bewertungen in die behördliche Betrachtung einfließen.

Was weiß man über die Taten von Jugendgruppen?

Gewaltbereite Cliquen und festere Jugendbanden gibt es trotz gegenteiliger Eindrücke seltener als noch in den 90er Jahren. Schon vor einem Jahr hatten Experten begrüßt, dass jugendtypische Rohheitsdelikte weniger werden. Und insbesondere die Jugendgruppengewalt ging in den vergangenen Jahr zurück.

In Berlin wird die so genannte Jugendgruppengewalt von verschiedenen Dienststellen verfolgt. Dabei werden Raub, Körperverletzung, Bedrohung, Sachbeschädigung und so genannte Begleitdelikte – etwa der Besitz eines Messers – immer dann gezählt, wenn sie bei Gruppen festgestellt werden, deren Mitglieder zwischen acht und 21 Jahre alt sind. Wurden 2010 mit rund 4000 Fällen schon deutlich weniger solcher Taten registriert als noch 2009, sank die Zahl im vergangenen Jahr erneut. Die Polizei zählte weniger als 3200 Fälle mit rund 2500 Tatverdächtigen. Wohlgemerkt: In Berlin leben rund 352 000 Menschen zwischen acht und 21 Jahren. Selbst wenn Verdächtige im Alter bis 25 Jahre hinzu gezählt werden, ist die Zahl seit Jahren leicht sinkend.

Was macht Innensenator Frank Henkel?

Was sagen Experten?

Beim Weißen Ring, dem Verband für Kriminalitätsopfer, weiß man um die rückläufigen Zahlen. Dennoch änderten diese oft wenig am Sicherheitsgefühl vieler Menschen. „Bei jedem Leser, bei jedem Zuschauer können brutale Taten schnell Angstgefühle erzeugen“, sagt Hans-Günther Mahr, Berliner Vize-Chef des Weißen Rings. Hinzu komme, dass viele der Gewalttaten als äußerst sinnentleert wahrgenommen würden. Anders etwa als bei einem Bankraub, können viele bei brutalen Übergriffen, bei denen die Tätern ihrem Opfer womöglich gerade erst begegnet sind, nur schwer ein Motiv erkennen. „Der Eindruck, eine Tat sei völlig sinnlos und entsprechend willkürlich, macht oft besonders viel Angst“, sagt Andreas Heinz, Professor für Psychiatrie der Universitätsklinik Charité. Hinzu komme, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt abgenommen habe – zumindest sei so die Wahrnehmung. Das habe mitunter zur Folge, dass sich Menschen im öffentlichen Raum kaum einzugreifen trauen und das eigene Handeln als ohnehin wirkungslos begreifen. Durch die Angst vor Gewalt entsteht so auch die Gefahr, mehr Gewalt zuzulassen.

Das Bedrohungsgefühl wird auch dadurch verstärkt, dass Angriffe über das Internet verbreitet werden. Hinzu kommen bei Attacken vor Überwachungskameras entsprechende Bilder, die es so vor Jahren noch nicht zu sehen gab.

Welche Schwerpunkte setzt der Berliner Innensenator Frank Henkel?

In einer ersten Reaktion auf das jüngste Todesopfer fordert der CDU-Politiker ein Umdenken in der Gesellschaft. „Es muss endlich eine schonungslose Debatte über diese Gewaltspirale beginnen.“ Man dürfe nicht die Augen vor dem Problem verschließen und zusehen, wie Hemmschwellen sinken. Er halte zwar „eine größere Polizeipräsenz für sehr wichtig, um das Sicherheitsgefühl zu stärken“. Aber auch wenn man 20 000 Polizisten hätte, „würden wir nur bedingt weiterkommen“.

Dass der Innensenator jetzt am Alexanderplatz mehr Beamte einsetzen will, stößt bei Sicherheitspolitikern auf Zustimmung. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) gibt aber zu bedenken, dass das Personal knapp ist. „Was am Alexanderplatz eingesetzt wird, wird woanders abgezogen“, sagt GdP-Sprecher Klaus Eisenreich. „Die Polizei arbeitet doch inzwischen fast schon nach dem Feuerwehrprinzip: Wir kommen, wenn wir gerufen werden. Und dann ist die Tat schon geschehen.“

Erfüllt Henkel den Anspruch, den er als Law-and-order-Oppositionschef aufstellte?

Früher wurde Henkel nicht müde, dem damaligen rot-roten Senat vorzuwerfen, nicht hart genug gegen die Kriminalität vorzugehen. Er versprach, schnell für mehr „Grün auf der Straße“ zu sorgen. 250 zusätzliche Polizisten sollen laut Koalitionsvertrag eingestellt werden. Die gibt es noch nicht. „Gemessen an seinen eigenen Versprechungen ist Henkel gescheitert“, sagt der grüne Innenpolitiker Benedikt Lux. Und auch die GdP, die dieEinsparungen von Rot-Rot bei der Polizei stets heftig kritisierte, berichtet von enttäuschten Polizisten: „Henkel hatte hohe Erwartungen geweckt.“

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