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Kriminalität: Liebe, Lüge, HIV

Ein Mann infizierte reihenweise Frauen mit dem Virus. Sie müssen nun darum kämpfen, als Opfer einer Straftat anerkannt zu werden. Von den Behörden gibt es keine Hilfe: Selbst schuld, heißt es dort.

Sie liebt ihn, den Architekten aus dem fernen Westen mitsamt seinen Pickeln und Marotten. Zum Beispiel, dass er sogar beim Sex das T-Shirt anbehält. Warum sollte sie bezweifeln, dass er die vielen Tabletten gegen Kopfschmerzen nimmt und die von der Platte herrühren, die ihm nach einem Autounfall eingesetzt wurde? Dass er oft weg muss, weil auf seiner großen Baustelle Not am Mann ist. Martina Schneider – wie wir sie nennen wollen – ist 30, berufstätig und alleinerziehende Mutter. Er ist 34 und meint es ernst. „Er hatte mich auch gefragt, ob ich ein Kind von ihm möchte“, sagt sie heute, vier Jahre und eine grausame Erfahrung später, seufzend, „Ja, na klar! Er war ja ein toller Mensch. Ich hab ihn geliebt!“

Martina Schneider ist nicht naiv. Und dies ist keine Geschichte, die man mit einem coolen „wenn Frauen zu sehr lieben“ beiseite schieben kann. Liebe basiert nun mal auf Vertrauen. Wer lieben will, darf nicht mit Verrat rechnen. Nicht damit, belogen zu werden, und schon gar nicht damit, dass der geliebte Mensch einem etwas zufügt, das die Grenze zur Kriminalität überschreitet. Diese Liebe beginnt im Januar 2003, ist wunderschön und voller Zukunft und reißt ein halbes Jahr später jäh ab. Der Mann verschwindet. Sie sucht ihn in Nordrhein-Westfalen, hinterlässt Briefe, schickt SMS, E-Mails – vergeblich. Deswegen kann man irre werden. Man will doch nur eins wissen: Warum? Vor allem, wenn man sich auch noch matschig fühlt wegen einer mysteriösen Krankheit. Martina liegt plötzlich im Sommer 14 Tage flach, ohne dass die Ärzte den Grund finden können. Es fühlt sich an wie eine schwere Grippe, hohes Fieber und ein zum Heulen schmerzender Körper.

Sie versucht, ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Dass Männer einfach abhauen, ohne sich die Mühe einer Erklärung zu machen, das ist wohl so. Das kann man überleben. Vor allem, wenn man jung und gesund ist, einen kleinen Sohn und eine Familie hat, in der man sich geborgen fühlt. Martina Schneider ist eine attraktive junge Frau mit langen blonden Locken und wachen grünen Augen. Im Dezember 2003 geht sie mit ihren Kollegen Blut spenden. „Eine Woche später kam vom Roten Kreuz ein Brief, ich soll nochmal hin“, sagt sie, ganz ruhig, im nüchternen Besprechungszimmer der Anwaltskanzlei, mit einem Auge und einem Ohr bei ihrer Schwester und deren kleinem Sohn, der immer mal fröhlich dazwischenquiekt. Beim DRK wird ihr die Horrormitteilung gemacht: dass sie HIV positiv ist. „Tja, und dann war die Welt zu Ende.“

Ab jetzt ist sie nicht mehr bloß eine sitzengelassene Frau. Martina Schneider ist Kriminalitätsopfer, Opfer einer Tat, die einem Todesurteil gleichkommt. Sie braucht nichts dringender als Unterstützung. Von ihrer Familie, ihren Freunden bekommt sie die sofort. Der Chef einer Bekannten ist selbst HIV-infiziert, er nimmt ihr die allerschlimmsten Ängste und schickt sie zum richtigen Arzt. Sie weiß, wer sie angesteckt hat, sie hatte mit niemandem geschlafen als mit dem „tollen Menschen“. Und der hatte ihr nicht nur seine Infektion verschwiegen. Er hatte auch ihre „mysteriöse Krankheit“ sofort begriffen. „So was hat man einmal, wenn man sich definitiv angesteckt hat“, erfährt sie, „da haben die Viren gewonnen. Spätestens da hätte er es mir sagen müssen.“ Aber da ist er weg.

Noch hat sie keine körperlichen Symptome. Aber der Angriff auf ihr Leben macht ihr zu schaffen. Sie sucht noch einmal nach ihm. Er bleibt ungreifbar. Sie will ihn anzeigen. Psychisch wackelig, wie sie ist, lässt sie sich von ihrer Schwester zur Aids-Beratung begleiten. Was die Frauen dort zu hören bekommen, haut Martina Schneider wieder die Beine weg. „Die haben gesagt, ich brauch’ den nicht anzuzeigen, ich hab sowieso keine Chance.“ Von Frauen ist die Rede, die gerade damit vor Gericht scheiterten. Außerdem sei sie für ihr Leben selbst verantwortlich. „Da hab ich mich dann auch nicht mehr getraut, zur Polizei zu gehen und mich da als Infizierte zu entblößen.“ Also fängt sie an, damit zu leben. „Für mein Kind auch, es musste ja irgendwie weitergehen.“

Die goldene Oktobersonne ist fast völlig gewichen vom Tisch mit den Kaffeetassen, Keksen und Bonbons. Der kleine Knirps klappert weiter lebenslustig mit Spielzeug. Die Rechtsanwältin kommt mit einem Ordner zurück ins Zimmer. Henrike Weber gehört zur Kanzlei Weber, Preuß, Lehmann, die zur einer der Topadressen für Kriminalitätsopfer gehört: Roland Weber ist Spezialist für Strafrecht, Lars Preuß für Fälle häuslicher Gewalt und für Opfer im Kindesalter, Markus Lehmann ist Zivil- und Versicherungsrechtler und Henrike Weber Fachfrau fürs Opferentschädigungsgesetz. Der Synergieeffekt bringt Power auf die Nebenklägerbank, den einzigen Ort, an dem Opfer von Verbrechen aktiv teilnehmen an Gerichtsverfahren.

Dass Martina Schneider mit dieser Kanzlei spricht, liegt am Opferhilfeverein Weißer Ring. Im Oktober 2005, als sie langsam geschafft hat zu vergessen, was sich vergessen lässt, ruft ein Kripo-Kommissar aus Köln bei ihr an. Der „Architekt“ ist aufgeflogen und verhaftet worden. „Ich war eine der letzten, die sie gefunden haben.“ Der Kommissar hat solange ermittelt, bis er sicher war: Mehr geschädigte Frauen findet er nicht. Nicht in NRW und nicht in Berlin. „Wär’ er nicht gewesen...“, sie hält inne. Ein wunder Punkt. Der Täter habe noch mehr Frauen angesteckt, zwei Jahre lang, weil sie sich die Anzeige ausreden lassen hatte. Von diesem Kommissar erfährt sie, dass sie Rechte hat, auch auf staatliche Unterstützung. Er rät ihr, sich an den Weißen Ring zu wenden. Sie hat wie die meisten Bundesbürger keine Ahnung, dass es ein Opferentschädigungsgesetz gibt, dass ihr zum Beispiel Rente zusteht, wenn sie wegen Aids nicht mehr arbeiten kann, oder was ein Versorgungsamt ist. Mitarbeiter des Weißen Rings kennen die Probleme, deshalb engagieren sie sich da. Fast ausschließlich ehrenamtlich, rund hundert Menschen in vierzehn Außenstellen allein in Berlin.

So wie Herbert Kreis, der die Außenstelle Neukölln leitet. Seit 1996 ist der gelernte Jurist Weißer-Ring-Mitglied. „Ich war nie Opfer einer Straftat, auch niemand aus meinem Umfeld“, sagt er, „aber man kann doch als aufmerksamer Staatsbürger beobachten, wie Verbrechensopfer benachteiligt werden.“ Seit er nicht mehr selbst arbeitet, ist deren Betreuung und die Koordination aller möglicher Hilfen fast ein Vollzeitjob. Hilfe vom Weißen Ring passiert sofort, von der menschlichen bis zur finanziellen Zuwendung, von Beratungsschecks für Rechtshilfe oder Psychotherapie bis zur Vorbereitung und Begleitung bei Prozessen, die für die Opfer oft eine psychische Qual sind. „Da war einfach jemand, der wirklich geholfen hat“, erzählt Martina Schneider, „das war klasse. Die sind echt – der Hammer.“ Der Hammer ist bitter nötig. Ihr Antrag beim Versorgungsamt wird kalt abgeschmettert. „Wer sich auf einen ungeschützten Sexualverkehr einlässt und dadurch an Aids erkrankt, hat keinen Anspruch auf Leistungen nach den Vorschriften des Entschädigungsgesetzes, auch wenn der Partner die Infektion verheimlicht hat“, liest Henrike Weber vor. Das Amt will weder selbst ermitteln, was es kann und soll, noch interessiert es sich für die längst laufenden Ermittlungen der Kripo Köln. „Stattdessen wird ein lapidarer Bescheid in die Welt geschossen, an ein krankes Opfer. Quintessenz: Alles deine Schuld!“

Martina Schneider ist geschockt, als sie das Schreiben bekommt. „Wie die das formuliert haben, einfach nur: Selbst schuld und tschüs!“ Eine voreilige, sinnlose Härte. Das Entschädigungsgesetz soll eigentlich Opfer stärken und ist ein Gegenstück zum staatlichen Gewaltmonopol. „Der Rechtsstaat sagt ja, liebe Leute, ihr dürft hier nicht mit geladenen Waffen rumlaufen, euer Recht auf Strafverfolgung und Prävention setzen wir für euch durch“, sagt Henrike Weber, „wir können aber nicht überall rechtzeitig sein, wenn ihr also trotzdem Opfer einer Tat werdet, sollt ihr wenigstens dafür entschädigt werden.“ In der Praxis, sagt Herbert Kreis’ Erfahrung, müssen allerdings oft die Opfer selbst erstmal beweisen, dass ihr Schaden Folge einer Straftat ist. „Die Versorgungsämter warten in der Regel den Ausgang von Gerichtsverfahren ab und fangen dann erst an zu prüfen, ob Leistungen überhaupt notwendig sind.“ Das heißt, es vergeht unendlich viel Zeit, in der das Opfer in der Luft hängt, was seine materielle Sicherheit angeht. Und wenn dem Täter die Schuld nicht rechtskräftig nachgewiesen werden kann, „dann schicken die Ämter die Opfer häufig in Klageverfahren vor Sozialgerichte, die dauern einige Jahre“. Er hört oft von Mitarbeitern der Ämter, dass sie in Einzelfällen vorab positiv entscheiden, erlebt hat er es noch nicht.

Im Sommer 2007 findet in Köln die Gerichtsverhandlung statt. Vom Ausgang sind indirekt auch die Versorgungsämter zweier Bundesländer betroffen. Das Kölner schickt einen Prozessbeobachter, was ungewöhnlich und vermutlich Ergebnis kluger Anwaltsstrategie ist. Henrike Weber hat ein Adhäsionsverfahren durchgesetzt, also zivilrechtliche Forderungen in einen Strafprozess eingebracht. „Wir haben einen Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht, den der Täter sofort anerkannt hat.“ Er könne sich das leisten, denn er ist nicht Lage zum Zahlen. Aber es ist eben de facto auch ein Schuldeingeständnis. „Damit wollten wir das Versorgungsamt in Zugzwang bringen.“ Verurteilt wird der „Architekt“, der in Wahrheit ein arbeitsloser Kfz-Mechaniker ist, wegen versuchter und vollendeter gefährlicher Körperverletzung in elf Fällen zu acht Jahren Haft, Sicherungsverwahrung vorbehalten, und zur Zahlung von 20 000 Euro Schmerzensgeld an Martina Schneider. Staatsanwalt und Verteidiger sind in Revision gegangen. Für anstehende Zivilverfahren ist das unerheblich. Und das Versorgungsamt kann Martina Schneiders Anspruch auf Leistungen jetzt nicht mehr kalt abschmettern. Sie wird sie dringend brauchen, irgendwann, wenn die Krankheit ausbricht. Selbst wenn es bis dahin Heilverfahren für Aids geben sollte. Heute ist ihr etwas anderes wichtig. „Ich weiß jetzt, wo er ist und dass er bestraft wird für das, was er uns allen angetan hat. Und da hoff’ ich, endlich auch seelisch damit klarzukommen.“

Pieke Biermann

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