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Nach Straßburger Urteil: Sicherungsverwahrter wird nicht freigelassen

Ein Berliner Gericht hat im ersten Fall eines zu entlassenen Sicherungsverwahrten nach dem Straßburger Urteil eine überraschende Entscheidung getroffen und eine Freilassung abgelehnt. Anwälte werfen der Justiz ein Hinhaltetaktik vor.

Wie von Staatsanwaltschaft und Justizverwaltung erhofft, lehnt eine Strafvollstreckungskammer die Freilassung eines 50-Jährigen ab. Chris W. gehört zu den insgesamt neun Sicherungsverwahrten, die nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in diesem Jahr vor der Freilassung stehen. Wie berichtet, hatten die Straßburger Richter moniert, dass die Sicherungsverwahrung bei zahlreichen Sexual- und Gewaltverbrechern 1998 rückwirkend auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde, obwohl bei ihrer Verurteilung eine Verwahrung im Anschluss an die Haftzeit auf maximal zehn Jahre befristet war.

Die für Chris W. zuständige Richterin hat sich damit gegen das Straßburger Gericht gestellt. Experten und Rechtsanwälte zeigten sich gestern von der Entscheidung überrascht – denn es betraf einen der zwei Männer, denen Sachverständige eine gute Prognose gestellt hatten. Wie berichtet, hat der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber über sieben der Sicherungsverwahrten neue Gutachten verfasst, fünf hält er für rückfallgefährdet. Nur bei Jürgen B. und Chris W. sieht der Gutachter ein „geringes“ Rückfallrisiko. Während für den 70-jährigen Jürgen B. vor allem sein hohes Alter und seine schlechte Gesundheit spricht, ist W. der einzige Gefangene, der „in gutes Sozialgefüge“ entlassen werden kann. Bei dem 50-Jährigen hofft der Gutachter auf die stabilisierende Wirkung durch die langjährige Lebensgefährtin des Mannes. W. hatte 1989 in Gesundbrunnen eine 27-jährige Studentin längere Zeit vergewaltigt. Er wurde zu sieben Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt.

Unklar bleibt, wann die Entscheidungen in den anderen Fällen getroffen werden. Rechtsanwalt Steffen Tzschoppe, der für vier der sieben Sicherungsverwahrten die Anträge auf Entlassung gestellt hat, ist empört über das langwierige Verfahren. Die Anträge hatte er Anfang Juni gestellt, „das ist jetzt vier Monate her“. Wie berichtet, hatte das Gericht Anfang September angekündigt, dass in mehreren anderen Fällen die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen fallen sollte. Ein Justizsprecher betonte gestern, dass dieser Termin nur „grob in Aussicht“ gestellt worden sei. Es gelte die richterliche Unabhängigkeit. Anwälte werfen der Justiz mittlerweile „Freiheitsberaubung im Amt“ vor. Auch der grüne Rechtsexperte Dirk Behrendt mahnte zu mehr Tempo. „Andere Bundesländer sind viel weiter.“ Bundesweit sind bereits 16 der etwa 80 Sicherungsverwahrten frei gekommen.

Unterdessen hat die Berliner Justiz noch einen neunten Gefangenen entdeckt, der von der EGMR-Entscheidung profitieren wird. Seit Monaten hatte Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) von acht Männern gesprochen, die in diesem Jahr freikommen müssen. Wieso der Mann, der zurzeit in der Karl-Bonhoeffer-Klinik untergebracht ist, erst jetzt zum Kreis der freizulassenden Sicherungsverwahrten gerechnet wird, konnte die Justiz nicht sagen.

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