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Im Visier der Kamera. Diesen weiß gekleideten Radfahrer, der am 20. Juni 2009 an der Einfahrt des Johannestifts in Spandau gefilmt wurde, hält die Polizei für den Mörder.

© Polizei

Ungelöster Mordfall: Das Phantom auf dem roten Rad

Vor einem Jahr wurde im Spandauer Forst die 39-jährige Kirsten S. erstochen. Der Täter wurde offenbar danach gefilmt, gefunden hat man ihn bislang nicht.

Mücken schwirren, Vögel zwitschern, die Wildschweine blinzeln in die Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen fallen. Er beachtet die Tiere nicht, fährt auf einem Fahrrad am Wildgehege im Spandauer Forst vorbei. Er will weg, radelt schnell – aber nicht hektisch. Wenig später ist er an der Schönwalder Allee. Kurz vor 9 Uhr sehen ihn Spaziergänger. Die weiße Kleidung und sein rotes Rad fallen auf. Und jung ist er.

Es ist Sonnabend, der 20. Juni vor einem Jahr. Ein schöner Tag, Hundehalter, Familien, Jogger sind an der grünen Stadtgrenze unterwegs. Kurz bevor der junge Radfahrer den Wald verlässt, hat Kirsten S. an der sumpfigen Kuhlake am Wildgehege mit Chi-Gong-Übungen begonnen, nach einer chinesischen Meditations- und Bewegungslehre. Die 39 Jahre alte Psychologin hilft wochentags Krebspatienten, viele von ihnen sind unheilbar krank. Seit acht Jahren arbeitet Kirsten S. auf dem Charité-Campus in Steglitz, Kollegen und Patienten schätzen sie. „Sie war die Richtige für den Job“, sagt ein Mediziner.

Kirsten S. und ihr Ehemann sind an diesem Sonnabend gemeinsam von ihrem Haus an der nahen Havel zum Forst gefahren. Ihr Mann läuft schon, seine Frau dehnt sich noch in Chi-Gong-Manier. Der junge Mann in Weiß mit dem roten Rad steht wahrscheinlich zwischen Bäumen, beobachtet sie. Plötzlich, gegen 8.45 Uhr, tritt er auf die Frau zu, sticht sie mit einem Messer nieder, vermutlich einseitig geschliffen, 15 cm lang. Spaziergänger hören ihre Schreie, als sie bei ihr ankommen, liegt sie lebensgefährlich verletzt auf dem Waldboden. Der Notdienst wird gerufen, eine Zeugin rennt los, findet den Ehemann. Er eilt zu seiner Frau zurück, ein Rettungswagen kommt. Bevor die 39-jährige Medizinerin kurz darauf in einer Klinik stirbt, kann sie den Täter beschreiben. Schlank, kaum 1,75 Meter, höchstens 20 Jahre alt, kurze blonde Haare, kein Bart, keine Brille. Auffällig ist nur die weiße Kleidung, dazu passt seine gepflegte Erscheinung. Bei der Tat hatte er wohl eine Kapuze auf, sein Gesicht können auch die Spaziergänger nicht beschreiben. „Wir haben kein Phantombild“, sagt Thomas Scherhant, bei der Mordkommission seit 1982. Aber es gibt einen Schwarzweiß-Film, sechs Sekunden in schlechter Bildqualität: Als der junge Mann über die Schönwalder Allee fährt, biegt er vermutlich in das Evangelische Johannesstift ab, an der Einfahrt nimmt ihn eine Überwachungskamera auf. Das Video steht auf der Internetseite der Polizei: Das Gesicht des Mannes ist nicht zu sehen, aber die Gestalt. Der gefilmte Radfahrer wirkt gelassen, als er auf das 75 Hektar große Anwesen fährt. Hier wird Alten, Jugendlichen und Kranken geholfen – samt Pflegezentrum, Schule, Buchladen, insgesamt fast 1900 Mitarbeiter. Nach der Einfahrt radelt der Mann wahrscheinlich an Blumenbeeten und der Voliere mit den Sittichen vorbei. An dutzenden Menschen, die sich aber nicht brauchbar erinnern können. Vor der Evangelischen Schule biegt er vermutlich rechts ab, nach der Gärtnerei verlässt er das Gelände über die stillgelegten, im Straßenasphalt versunkenen Gleise in die Wichernstraße.

Scherhant und seine Kollegen haben nicht viel: Zeugen, die die Tat selbst nicht gesehen haben, dazu ein paar Spuren, zu denen sie aus taktischen Gründen nichts sagen. Fasern, DNA? Die Ermittler fragen sich durch Spandau und nahe Brandenburger Orte. Welcher Großstadtteenager ist an einem Sonnabend ab 8 Uhr allein im Wald? „Sicher nicht so viele“, sagt Scherhant. „Aber genug.“ Der Täter kannte sich in der Gegend aus. Sein Opfer kannte er nicht, glaubt die Polizei. Möglich, dass er psychisch krank ist. Ein Vergewaltiger, der Panik bekam? „Alles offen.“ Kürzlich wurde in der Sendung „Aktenzeichen XY“ über den Fall berichtet. „Wir haben 60 neue Hinweise erhalten“, sagt Scherhant. Insgesamt sind es 760 – auch wenn keine heiße Spur dabei ist, jedem wird nachgegangen. „Jeden Tag arbeiten wir auch an diesem Fall.“ Die Staatsanwaltschaft hat 5 000 Euro Belohnung ausgesetzt.

Über neun von zehn Morden werden aufgeklärt. In Berlin gab es 2009 neben Kirsten S. nur zwei ungelöste Fälle. Doch je länger es dauert, einen Verdächtigen zu vernehmen, desto unwahrscheinlicher wird es, einen Täter zu überführen. Im Oktober, zum 40. Geburtstag von Kirsten S. , hat ihr Mann einen Gedenkstein im Wald aufgestellt. „Es gibt Fälle, da hatten wir Jahre später den Täter“, sagt Scherhant. Mord verjährt nicht, endgültig geschlossen werden die Ermittlungsakten nie.

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