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Berlin: Power-Parzelle

Neues aus Schreberland: Immer mehr junge Leute, immer mehr Ausländer – und Gartenarbeit statt Fitness

Wenn eine 30-jährige Frau, die einen Meter 70 misst und 65 Kilo wiegt, 30 Minuten joggt, verbraucht sie laut www.fitrechner.de etwa 220 kcal und hat sonst nicht viel getan. Wenn sie stattdessen 20 Minuten Rasen harken (90 kcal) und 20 Minuten Erde umgraben (104 kcal) würde, hätte sie ähnlich viele Kalorien verbrannt – und dabei etwas Sinnvolles getan. Und das schätzen immer mehr Berlinerinnen und Berliner. Gartenarbeit wird zum Ersatz fürs Fitnessstudio, sagt Jürgen Hurt. Er ist der Vorsitzende des Berliner Verbandes der Gartenfreunde e.V. und er hat das beobachtet.

Gartenarbeit sei nicht länger Krux, sondern Jux, und gesund obendrein. Früher ein Revier der naturliebenden Arbeiter, hausen und werkeln im Schrebergarten heute auch Gutverdiener, die Bürostress beim Unkraut jäten vergessen wollen. Dafür nehmen sie Wege von sieben bis acht Kilometern zwischen Haus und Parzelle auf sich. Außerdem wollten Familien ihren Kindern wieder zeigen, wie Salat wächst. „Es gibt eine Rückkehr zu traditionellen Werten“, sagt Jürgen Hurt. In der Gartenkolonie gebe es, was sonst in der Gesellschaft immer seltener vorkommt: Mehrere Generationen leben auf engstem Raum zusammen. Hurt nennt das ein „soziales Lernfeld“. Reibungen bleiben nicht aus. Die typische Familie unter den Bewerbern um eine grüne Parzelle: Vater 40 Jahre alt, Mutter Ende 30, zwei Kinder, eines drei, eines zehn Jahre alt. „Sie stellen mittlerweile gut die Hälfte der Bewerber“, sagt Hurt.

Etwa Familie Weiss. Die junge Mutter sitzt vor ihrer Laube, lässt sich von ihrem dreijährigen Sohn Krabbelkäfer vorführen und schmiedet Anpflanzungspläne für Bio-Gemüse. Das 200-Quadratmeter-Grundstück auf dem Schöneberger Südgelände hat sie gerade frisch übernommen. Für ein Haus mit Garten fehlt das Geld, aber Grün ist halt schön. Allerdings hatte Familie Weiss auch Bedingungen: Biertrinkerrunden mit Heino-Musik wollte sie nicht in unmittelbarer Nachbarschaft haben. Andere haben andere Sorgen: Unter den Familien, die neu in die früher verschnarchten Gartenanlagen ziehen, sind auch immer mehr Ausländer, Türken und Griechen, die häufig mehr Kinder haben, weshalb mehr Lärm entsteht. Es gab Ärger deswegen, sagt Reiner Brockschmidt vom Bezirksverband der Kleingärtner Schöneberg-Friedenau, aber man habe sich arrangiert. Fast 15 Prozent der Schreber seien auf dem Südgelende inzwischen ausländischstämmig. Die Kolonie passt sich der Stadt an.

70000 Schrebergärten gibt es in Berlin, davon wechseln rund 3500 jährlich den Pächter. Durch die neuen jungen Pächter ist das Durchschnittsalter der Kleingärtner in den letzten Jahren stetig gesunken und liegt jetzt bei 45 Jahren.

Familie Weiss hatte keine Probleme, die Parzelle zu bekommen. „Der Vorstand der Siedlung nimmt gerne junge Familien mit Kindern.“ Denn für die regelmäßige Gartenpflege brauche es mindestens zwei Personen, und ältere Pächter hätten irgendwann nicht mehr die Kraft.

Als die Schrebergärten in Berlin Anfang des vergangenen Jahrhunderts geschaffen wurden, mieteten vor allem Arbeiter den Platz im Grünen. Die Flächen waren billig. Einzige Bedingung: Ein Drittel des Gartens musste für Obst- und Gemüseanbau genutzt werden. Teures Obst und Gemüse haben die Pflicht von einst zum Plus gemacht. Man isst Möhren, Äpfel, Kartoffeln aus dem eigenen Garten, das ist gesund und schmeckt gut – und außerdem ist es billiger als im Laden.

Hurt hat nun keine Zeit mehr. Ihm ist ein Beschwerdebrief ins Haus geflattert. Darin wünscht sich ein Kleingärtner „bei aller Liebe zur Musik“, dass sein Nachbar nachts um zwei nicht mehr zum Akkordeon Arien aus der Operette „Zarewitsch“ singe. Beigefügt lag der Text des nächtlichen Liedes. Hurt hat herzhaft gelacht, jetzt muss er schlichten gehen.

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