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Praxisführer Folge 1: Aids und HIV

Das HI-Virus greift das Immunsystem an – schwere Medikamente halten es in Schach. Besiegt werden kann es nicht. Dennoch leben Infizierte noch viele Jahre – wenn sie sehr diszipliniert sind. Grund zur Entwarnung gibt es aber nicht. Am 1. Dezember ist Welt-Aids-Tag

Draußen tobt das Leben. Über die Wilmersdorfer Straße rennen Schulkinder, vor den Läden in der Einkaufsmeile schwenken Anzugträger ihre Taschen mit neuen Sportschuhen. Die Sonne fällt milde in den fünften Stock eines Eckhauses. In den hellen Räumen, aus deren großen Fenstern die belebte Fußgängerzone zu sehen ist, hängt abstrakte Kunst. Auf den Tischen stehen Computer der bei Grafikern beliebten Marke Apple. Das Personal spricht auch Englisch und Polnisch, die Chefs Französisch. Hotel? Studio? Marketingbüro?

Ein junger, aschblonder Student kommt aus einem der Zimmer. Er hat Tränen in den Augen. Sein Leben hat sich für immer geändert: Er ist HIV-positiv.

Gesagt hat ihm das Dietmar Schranz. Der Mediziner trägt graublonde Haare und ein hellblaues Hemd, er erinnert an einen belesenen Hobbysegler. Die Praxis betreibt der Facharzt für innere Medizin zusammen mit seinem Kollegen Klaus Fischer. Auf guten Kaffee, Ruheraum und üppige Zimmerpflanzen legen die beiden und ihre sechs Mitarbeiter viel Wert.

Während Schranz hellblau trägt, zieren Fischers weißes Hemd grüne Streifen. Die machen sich gut in seinem Behandlungszimmer: Tisch, Stühle und Pflanze sind sattgrün. Sie passen auch zu den grünen Rechtecken auf dem kubistischen Wandbild. Grün, die Farbe der Hoffnung? Nein, das nun nicht. „Aber unsere Patienten sollen sich hier wohl fühlen. Schließlich verbringen sie besonders viel Zeit ihres Lebens in Arztpraxen“, sagt Fischer.

Gegen den sonstigen Trend steigt die Zahl der Neuansteckungen bei schwulen Männern wieder – in Berlin infiziert sich jeden Tag einer. Anlässlich des Welt-Aids-Tages am Dienstag warnt Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linke) vor der Infektion, die sich vor allem wegen Leichtsinn verbreitet.

Pro Quartal kommen knapp 500 HIV-Patienten in die Praxis in der Wilmersdorfer Straße. Die meisten sind schwule Männer Mitte 40. Einige sind schon seit 20 Jahren infiziert. Schranz hat 1985 die Berliner Aids-Hilfe mitgegründet – damals dürfte es hunderte HIV-Positive in der Stadt gegeben haben. Derzeit sind es 11 200. Aus der Selbsthilfegruppe ist eine große Interessenvertretung geworden – mit 300 Mitgliedern und 20 hauptamtlichen Helfern, die etwa anonyme HIV-Tests anbieten.

Über das „humane Immundefizienz-Virus“ – abgekürzt als HIV bekannt – wurde in der Fachwelt 1983 zum ersten Mal diskutiert. Seitdem versuchen Biologen herauszubekommen, wie man sich gegen das Virus impfen lassen kann. Bisher ist nicht mal sicher, wann HIV aufgetaucht ist. Vermutlich hat sich 1908 im Kongo das erste Mal ein Mensch infiziert.

Eine Infektion verläuft bei jedem Menschen unterschiedlich. Grundsätzlich gilt nur, dass sich die meisten etwa drei Wochen nach der Infektion wie bei einer schweren Grippe fühlen: Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen. Symptome, die von vielen als Erkältung abgetan werden. Nach ihrem Eindringen in die Blutbahn treffen die Viren auf die T-Helferzellen des Immunsystems – die zwar als Verteidiger vorgesehenen sind, dem Virus aber ausgerechnet als Wirtszellen dienen. Der geschwächte Organismus beginnt mit der Bildung von Antikörpern. Doch erst nach einem Monat reicht deren Menge für einen Nachweis – und erst dann ist sicher, ob man infiziert ist.

Folge des Virus ist die Krankheit Aids. Die wurde 1981 erstmals beschrieben, Mediziner wussten damals aber fast nichts darüber. Die Bezeichnung Aids ist ein Akronym der Anfangsbuchstaben von „Acquired Immune Deficiency Syndrome“: erworbenes Immunschwächesyndrom. Geschwollene Lymphknoten, Schwitzen, Durchfälle sind erste Symptome. Später folgen oft Lungenentzündungen, die tödlich enden können.

Die Latenzzeit genannte Periode von der Infektion bis zum Ausbrechen von Aids kann Jahre dauern. Das hängt von der Virenmenge im Blut ab – und somit vom rechtzeitigen Medikamenteneinsatz, dem Immunsystem und der Lebensweise des Patienten. Inzwischen kann die Virusmenge durch Präparate so verringert werden, dass das Virus nach wenigen Monaten im Blut nicht nachweisbar ist. Verschwinden tut es aber nie.

Die Therapie erfordert lebenslange Disziplin. Bis zu 20 Tabletten müssen täglich geschluckt werden. Dazu kommen Nebenwirkungen wie Ausschlag und Depression, Spätfolge kann Diabetes sein.

„Nach der Tablette ist mir immer etwas triselig, dann geh ich ins Bett“, sagt Jürgen Haag*. Der Sozialpädagoge mit dem sanften Blick, Ende 40, ist seit Mitte der 90er Jahre infiziert. Einen depressiven Eindruck macht Jürgen Haag nicht. Eher nachdenklich, aber gelassen.

Sein Freund habe sich Anfang der 90er Jahre in Brasilien angesteckt – und müsse seit Jahren jeden Tag bis zu zwölf Tabletten nehmen, erzählt Haag. „Am Anfang stand sein Leben immer auf der Kippe.“ Dass er selbst nur eine Pille täglich nehmen muss, hat Haag seinem stabilen Immunsystem zu verdanken. „Bisher hatte ich relativ wenig Beschwerden, ich muss aber jede Erkältung genau beobachten“, sagt er. Damit einem Schnupfen keine tödliche Lungenentzündung folgt, geht er lieber häufiger zu Schranz.

Die schwachen Abwehrkräfte bei HIV-Patienten machen ihre Körper für – normalerweise harmlose – Alltagskrankheiten anfällig. „Ich mach’ mir keine Illusion, die Krankheit wird mir vielleicht zehn Jahre meines Lebens nehmen“, sagt Haag. Wegen der ständig verbesserten Versorgung, gehen Mediziner aber davon aus, dass auch 15 Jahre nach ihrer Ansteckung die Hälfte der HIV-Infizierten noch nicht an Aids erkrankt sind. Dietmar Schranz versucht, diese Zeit auszudehnen: „Einige führen seit 20 Jahren ein einigermaßen normales Leben.“

Im größten Zimmer, mit zwei raumhohen Fensterfronten, ist das Labor. Hier werden die immer neuen Blutproben der Patienten untersucht. Alle drei Monate. Ein Leben lang. Schranz sieht dann, wie stark die Virenbelastung ist, welche Blutwerte zu hoch oder niedrig sind, ob andere Infekte drohen. Dank engmaschiger Betreuung sterben nur wenige.

Das hat nach jahrelanger Vorsicht – geschützter Sex, regelmäßige HIV-Tests – wieder zu mehr Leichtsinn geführt. Schranz beobachtet, wie viele andere Ärzte auch, eine „gewisse Sorglosigkeit“, mit der junge Männer und Frauen eine HIV-Infektion „als normale chronische Krankheit“ abtäten. Inzwischen glauben Jüngere, dass die Krankheit nicht nur eindämmbar, sondern heilbar sei.

Wobei sich der junge Student, der aus der Praxis auf die Wilmersdorfer Straße tritt, infiziert hat, weiß er nicht. Oder nur noch nicht. Wie Haag sind die meisten Betroffenen schwule Männer, Schätzungen zufolge haben sich in Deutschland 72 Prozent der Neuangesteckten durch Sex mit einem Mann infiziert. 20 Prozent stecken sich durch heterosexuellen Verkehr an. Die meisten anderen durch verschmutzte Spritzen in der Drogenszene.

In Deutschland haben sich seit dem Auftreten des Virus knapp 90 000 Menschen mit HIV infiziert, etwa 3000 kommen jedes Jahr hinzu. In Berlin infizieren sich jährlich mehr als 500 Menschen, 75 sind 2009 an den Folgen gestorben.

In der Praxis von Schranz und Fischer gibt es einen „Raum der Stille“, sechs Quadratmeter groß, Regal, darauf eine Orchidee. Wer sich auf dem weißen Teppich niederlässt, wird nachdenklich, gerührt: An der Wand stehen Namen verstorbener Patienten. Bei einigen war das Personal aus der Wilmersdorfer Straße auf der Beerdigung.

Das Verhältnis zwischen Arzt und HIV-Patient ist oft sehr eng. Wer sich jahrelang alle paar Wochen sieht, duzt sich häufig: Jürgen Haag etwa sagt „Hallo, Dietmar“, wenn er zum Arzt geht.

HIV zählt zu den meldepflichtigen Infektionen, deshalb werden alle positiven Tests anonym im Robert-Koch-Institut gesammelt. Man geht davon aus, dass erst 85 Prozent der Infektionen erfasst sind, bis zu 15 Prozent der Infizierten haben noch keinen Test gemacht.

Wer positiv getestet wurde, verliert schnell den Boden unter den Füßen. „Früher haben die Leute ihr ganzes Geld genommen und eine Weltreise gebucht, einige haben ihre eigene Trauerfeier organisiert“, erzählt Schranz. Das sei heute nicht mehr nötig. Dicke Wälzer zieren sein Bücherregal. Das „Buch gegen die Panik“ etwa. „Wer hier aus der Praxis kommt, auf den wartet noch ein langes Leben“, sagt Schranz. Dennoch: HIV bleibt bis zum Tod, eine normale Krankheit ist es nicht.

* Name geändert

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