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Aufbewahrt in Pflegeheimen, ohne therapeutische Maßnahmen, medikamentös ruhiggestellt - so verwundert nicht, dass die wenigsten der Patienten diese Einrichtungen jemals wieder verlassen können.

© Christiane Tramitz

Psychisch Kranke in Berlin: Unter Ausschluss

Es sollte sie gar nicht geben – stattdessen werden sie immer mehr: Psychisch Kranke, weggesperrt in geschlossenen Abteilungen, ohne Therapie lediglich aufbewahrt. Genannt: Geheimheime.

Angekommen. Am Rande von Berlin. Die Tür fällt ins Schloss, zwei Pförtner grüßen in ihrer gläsernen Festung, Herrscher über Drinnen und Draußen. Im Foyer sitzt ein junger Mann mit Krücken, schaukelt mit dem Oberkörper. Neben ihm steht eine Frau und mustert die Aushänge am Schwarzen Brett. Sie könnte die Mutter sein, wahrscheinlich eher die gesetzliche Betreuerin. „Backen und Fitness, schau mal, was du hier Schönes machen kannst“, sagt sie. Der Mann blickt mit leeren Augen nach draußen auf den grauen Parkplatz.

Eine betagte Prinzessin schiebt ihren Rollator den Gang entlang. Sie trägt eine Krone auf dem Kopf, die dünnen Haare sind zu Zöpfen gebunden. Auf dem Hilfsgefährt sitzen Zwillingskinder aus Plastik. Sie mustert den Neuankömmling, gluckst und verschwindet hinter einer Ecke. Von irgendwoher dringen Schreie. „Ich will hier nicht sein“, sagt der junge Mann und beginnt zu weinen. Ein Kapitän in Uniform geht mit schleppenden Schritten vorbei. Grüßend tippt er an seine Mütze. „Neuzugang?“, fragt er. Die Frau reicht dem Jungen ein Taschentuch.

Es ist ungemütlich hier, nackter Boden, kaltes Licht, kahle Wände. Die Blätter der Yuccapalme hängen saftlos am Stamm. Angekommen im Pflegeheim Bethanien Radeland in Berlin-Spandau. Ein Auffangbecken für die Kranken, Alten, die geistig Behinderten – und Abstellkammer jener, die keiner mehr haben will: chronisch psychisch Kranke, Schizophrene, Manisch-Depressive, solche mit Zwangshandlungen, insgesamt 171 an der Zahl.

Die alten Menschen sterben hier. Die geistig Behinderten leben hier. Und die psychisch Kranken vegetieren hier nach einer langen Irrfahrt in den Wahnsinn. Nicht, weil die Heime versagen oder die Pfleger. Sie mühen sich nach Kräften. Das ist zu wenig. Viel zu wenig. In den Gängen riecht es nach Urin, nach Schweiß, nach Trostlosigkeit. Jene, die noch auf ihren Beinen stehen können und nicht in ihren Betten auf den Tod warten, gehen wie ferngesteuert umher. Viele der psychisch Kranken blicken durch einen hindurch, so, als gäbe es in diesem Gebäude keine Menschen mehr. Andere werden von unkontrollierten Emotionen geschüttelt. Eine Frau fällt in einen hysterischen Lachkrampf, so lange, bis sie bitterlich zu schluchzen beginnt. Ein paar wenige diskutieren lauthals. Jakob zum Beispiel, der 25-Jährige mit den wirren Locken. Seine Augen flackern, während er Textstellen aus Franz Kafkas „Verwandlung“ zitiert: „Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße.“ Er zeigt auf seine Sporttasche. „Unausgepackt, ist nur eine Durchgangsstation, bin bald wieder weg!“ Seit Wochen hofft er auf seine Entlassung. „Kafka hat recht, und jetzt raus hier“, brüllt er dem Pfleger entgegen. Die Tür knallt zu, „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ steht auf ihr in Krakelschrift geschrieben. Drinnen hört man Jakobs Schrei. „Warum bin ich hier?“ Draußen zuckt der Pfleger mit den Achseln. „Gerichtlicher Beschluss“, sagt er, „mindestens für ein Jahr.“ Wahrscheinlicher jedoch ein Leben lang. In den vergangenen vier Jahren konnte von damals 170 Patienten in Radeland eine einzige Person das Gebäude wieder verlassen.

Die Zahlen sind dramatisch. Auf 100 000 Berliner kommen mindestens 1400 Fälle schwerer chronisch psychisch Kranker. Deutschlandweit werden jährlich etwa 200 000 Menschen in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen. Das entspricht der Einwohnerzahl von Städten wie Saarbrücken oder Kassel.

Vor mehr als 20 Jahren siechten viele dieser Kranken unter menschenunwürdigen Bedingungen in großen Anstalten wie der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik vor sich hin. Die Psychiatrieenquete im Jahr 1975 beschloss zwar die Enthospitalisierung der Heiminsassen und deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Aber erst zwischen 1993 und 2001 baute man in Berlin im Zuge der Schließung der großen Anstalten über 2500 Betten ab. Die Stadt spannte ein Netz von sozialpsychiatrischen Einrichtungen und betreutem Wohnen für seine psychisch kranken Bürger. Jeder Bezirk hat nun ein eigenes Steuerungsgremium, das für die Wiedereingliederung psychisch Kranker zuständig ist.

Das Netz fängt bei Weitem nicht alle auf.

Nur fängt das Netz bei Weitem nicht alle Kranken auf – und die schwierigen, unangenehmen, auch Systemsprenger oder Austherapierte genannt, die rauschen durch. Insider der Psychiatrieszene beobachten mit Sorge, dass immer mehr dieser Personen, die einen öffentlichen Vormund haben, in Pflege- , Kranken-, oder Obdachlosenheime abgeschoben werden, ohne dass die Steuerungsgremien tätig werden könnten. Schätzungen zufolge verschwinden in Berlin auf diese Weise zehn Menschen pro Tag. Ein Viertel aller Abgeschobenen ist jünger als 55 Jahre, die Jüngsten sind gerade mal 22. Professor Peter Bräunig, Chefarzt für Psychiatrie beim landeseigenen Klinikkonzern Vivantes konstatiert: „Inzwischen leben in diesen Heimen mehr Menschen als damals in den großen Anstalten. Wir wollen nicht wieder die gleichen bedrückenden Verhältnisse wie früher haben und müssen deshalb gegensteuern.“

Und immer häufiger werden die psychisch Kranken zum Opfer der Bequemlichkeit jener, die für sie Verantwortung tragen sollten. Gemeint sind die Ärzte, gesetzlichen Betreuer und Gerichte, die in solche Heime einweisen, wohl wissend, was die Patienten dort erwartet, in was für ein Elend sie sie schicken.

Das Haus von „Pro Seniore“ in der Genthiner Straße in Berlin-Tiergarten ist ein solches Heim. Das Gebäude ist marode, heruntergekommen, der äußere Eindruck setzt sich innen fort. Es ist düster hier, die Fenster sind klein und nicht zu öffnen. Die Luft, verbraucht und verräuchert, lässt kaum atmen. Unter einem Dach mit Wachkomapatienten und Dementen sind die psychisch Kranken auf engem Raum untergebracht. In den meisten Zimmern stehen zwei bis drei Betten, zu dicht, zu eng für die Kranken. „Psychisch leidende Menschen halten räumliche Enge und zu große Nähe oft schlecht aus“, erklärt Bräunig. „Bei großer Menschendichte geraten sie schnell in Konflikt, was wiederum zu einem höheren Bedarf an sedierender Medikation führt“, sie werden also ruhiggestellt.

Und so schleichen die Menschen auf den dunklen Gängen umher, nachlässig gekleidet, ungekämmt, ungewaschen, mit trüben Augen. Ein alter Mann mit einer Perlenkette um den Hals brabbelt vor sich hin: „Ich muss daran arbeiten, dass ich nicht abhaue, abhaue, abhaue . . .“ Niemand wirft einen Blick auf den Wochenplan, der an der Wand hängt: Gleichgewichtsgruppe, Gruppe Frustabbau, Selbsthilfegruppe Stimmenhören. Niemand ist im Fitnessraum, der aus einem Punchingball und ein paar Hanteln besteht. Auch Raum E473 ist leer, Insel genannt. An der Tür hängen zwei verschlungene Glitzerherzen, drinnen liegen dünne Matratzenteile auf dem Boden. „Wenn jemand kommt, eine Freundin oder so. Auch Kranke haben Sehnsucht nach Liebe“, sagt ein Pfleger. Doch wer hat hier noch Freunde? Kaum zehn Prozent der Heimbewohner bekommen Besuch. Die Welt da draußen hat mit ihnen abgeschlossen.

Alt und Jung, Männer und Frauen aus jeder gesellschaftlichen Schicht. So unterschiedlich ihre Schicksale sein mögen, all diese Menschen haben ein Gehirn, das aus den Fugen geraten ist und eine erschütternde Perspektivlosigkeit. In ihren Zimmern spiegelt sich wider, was in ihren Köpfen vorgeht. Einige Heimbewohner stopften den Raum mit den Reliquien ihrer Vergangenheit voll – und mit den Lieblingen, die ihnen noch geblieben sind: Bär, Hase, Puppe, vor Zärtlichkeit abgewetzt.

Andere kontrollieren ihr Chaos mit zwanghafter Ordnung. Der Papierkorb muss exakt zehn Zentimeter neben dem Bett stehen, die Kugelschreiber liegen im Halbkreis auf dem Tisch, in Setzkästen stehen Miniaturwelten in Reih und Glied: eine Flasche Feigling, ein Brillengestell, Sicherheitsnadeln. In vielen Zimmern aber befindet sich nichts anderes als Bett, Schrank, Tisch, Stuhl.

„Die meisten von ihnen haben keinen Sinn für Schönes, sie merken nicht einmal, wenn wir ihnen zum Geburtstag Blumen hinstellen“, erklärt ein Betreuer. „Keiner von denen lebt im Hier und Jetzt. Wann gibt es Essen, wann Taschengeld, das ist das Einzige, was die noch interessiert.“ Das Personal ist engagiert, versucht das Beste aus der Situation zu machen, aber die meisten in diesen Einrichtungen sind am Limit angelangt, finanziell, kräftemäßig. Die Pflegestellen sind chronisch unterbesetzt. „Wir fühlen uns vom Senat im Stich gelassen. Es fehlt an allgemeiner Unterstützung, vor allem fehlt es an Geld“, klagen die Heimleiter.

Psychisch Kranke sind nicht nur Opfer der Einweisungspraxis, sondern auch Opfer marktwirtschaftlichen Denkens. In Berlin entstehen zahlreiche Pflegeheime, besonders für Senioren. Weil diese an Unterbelegung leiden, bedienen sich die Betreiber eines lukrativen Marktes: chronisch psychisch Kranke, vor allem jüngere. Da ist die Nachfrage groß. Zu Marketingzwecken, so berichtet Matthias Rosemann von der Träger gGmbH Berlin, werben einige dieser Heime ganz offen mit geschlossenen Abteilungen. Eigentlich für Demenzkranke gedacht, sind dort nun auch jüngere chronisch psychisch Kranke willkommen.

Geheimheime nennen Insider diese Einrichtungen. Geheim bedeutet Geheimtipp unter den Einweisenden. Geheim nennt man sie aber auch, weil es sie in dieser Form in Berlin nicht geben dürfte, ohne dass sie offiziell dazu deklariert worden sind. Wie viele dieser Geheimheime es in der Stadt gibt, weiß niemand zu sagen, nicht einmal der Senat. „Wir wissen, dass junge Menschen in solchen Heimen untergebracht werden, zahlenmäßig haben wir hierüber keine Erkenntnis“, sagt Heinrich Beuscher. Er ist der Berliner Landesbeauftragte für Psychiatrie, er sollte es wissen.

Geheim ist auch die Zahl derer, die in den vergangenen Jahren in stationäre Pflegeheime verschwunden sind. In den meisten Fällen undurchsichtig ist auch der genaue Grund für die Einweisung. Meistens sind es die Kliniken, die ihre Patienten dort einweisen, gerne in andere Bezirke, damit sie nicht zu lästigen Drehtürpatienten werden, die immer wiederkommen. „Auf das Entlassungsgeschehen einer Klinik hat der Senat keine Einflussmöglichkeiten“, sagt Beuscher und verweist auf gesetzliche Verpflichtungen. „Wenn abzusehen ist, dass ein psychisch Kranker nach dem Klinikaufenthalt weitere Hilfe braucht, muss jede psychiatrische Einrichtung bereits während der Behandlung Kontakt zu den bezirklichen Steuerungsgremien aufnehmen.“ Kliniken folgen diesem Gebot je nach Bezirken höchst unterschiedlich.

Statt Therapie konzentriert man sich auf bloße Pflege.

Pflegeheime sind nicht auf eine Wiedereingliederung der psychisch Kranken ausgerichtet. In der Hälfte dieser Einrichtungen gibt es nicht einmal Psychologen und deutlich zu wenig psychiatrische Fachärzte. Statt therapeutischer Maßnahmen, die der Selbstständigkeit dienen, wie Einkaufen, Wäschewaschen, Putzen, konzentriert man sich dort auf die bloße Pflege: aufstehen, umbetten, waschen, kämmen. So verwundert nicht, dass die wenigsten der Patienten diese Einrichtungen jemals wieder verlassen können. Medikamentös ruhiggestellt ziehen sie sich in den Heimen ohne Ausweg zurück in ihre eigene Welt. Manche bringen sich um, wie jüngst ein 35-jähriger Mann, der sich aus dem dritten Stock stürzte. „Unser Leben hier ist menschenunwürdig, es bedeutet ein Gefangensein“, sagt Herr S., schizophren, 70 Jahre alt. Weil ihn immer wieder unkontrollierbare Wutausbrüche anfallen und er dabei sein Zimmermobiliar zertrümmert, ist er nach langer Odyssee in einem Geheimheim gelandet. Er hat sich von der Welt verabschiedet, wie er sagt. Er zieht einen Strick aus der Tasche. „Mir geht es besser, seitdem ich meine Endlösung bei mir habe.“

Der Heimmarkt für psychisch Kranke wächst rasant. „Keiner dieser Menschen müsste in einem solchen Heim sitzen, würde man sie adäquat behandeln“, sagt Bernd Gander, Geschäftsführer der Pinel gGmbH, in deren Trägerschaft zwischen 400 und 500 dieser Menschen versorgt werden.

Würden alle Beteiligten an einem Strang ziehen, weder Kliniken, Gerichte, Betreuer noch das ambulante System Bequemlichkeit und Ökonomie walten lassen, könnte all diesen Menschen geholfen werden. Was fehlt, ist die Steuerung seitens des Senats. Gefordert ist Transparenz, mehr Übersicht und effektivere Kontrolle in dieser Grauzone der Psychiatrie. Vorgeschlagen wird eine zentrale Begutachterinstanz, die alle Kranken vor einer Einweisung durchschreiten. Überlegenswert wäre eine generelle Altersbeschränkung für solche Pflegeheime, damit die jungen psychisch Kranken in sozialpsychiatrischen Einrichtungen eine Chance auf Wiedereingliederung haben. „Der Staat hat eine Verantwortung, er kann die Schwächsten der Schwachen nicht der freien Marktwirtschaft überlassen“, sagt Gander und vermutet ein Gemauschel. „Die großen Heimträger üben auf die Politiker einen nicht unerheblichen Einfluss aus.“

Mario Czaja, CDU-Senator für Gesundheit und Soziales, möchte gegenwirken: „Ich will keinen Anwuchs stationärer Pflegeeinrichtungen, das konterkariert das, was man unter moderner Psychiatrie versteht. Und wenn psychisch Kranke in stationären Pflegeheimen landen, wofür es auch Gründe geben kann, dann muss die Qualität gewährleistet sein.“

Grundsätzlich spricht sich auch Beuscher, der Landesbeauftragte, für einen allmählichen Abbau der Pflegeplätze für psychisch Kranke aus, dennoch widerspricht er den Expertenstimmen: „Es ist einfach an der Realität vorbeigeschaut, wenn man sagen würde, wir brauchen solche Pflegeeinrichtungen nicht!“ Diese seien gegenwärtig noch wichtiger Bestandteil der Psychiatrie. „Wichtig ist nur, dass die richtigen Menschen dort ankommen und dass sich diese Einrichtungen für das gesamte psychiatrische System öffnen.“

Da verbirgt sich ein Skandal im Skandal. Seit 2006 weiß der Senat durch eine Studie der Freien Universität Berlin über das Problem. Jetzt sagt Beuscher, er befasse sich seit einem Jahr in monatlichen Sitzungen mit dem Thema. „Das steht immer auf unserer Tagesordnung, und vielleicht kann ich in Bälde genau sagen, wie viele psychisch Kranke mit welcher psychischen Erkrankung in welcher Altersgruppe, sich in welcher Einrichtung befinden.“ Um sich einen solchen Überblick zu verschaffen, war sieben Jahre Zeit.

Jakob mit den wirren Haaren, die Prinzessin mit den Zwillingspuppen, der Kapitän, Herr S., der junge Mann mit den Krücken, sie alle werden dann in einer Statistik auftauchen. Immerhin.

Im Eingangsbereich von Radeland ist niemand mehr zu sehen. Einzig die beiden Pförtner, sie lesen Zeitung. Der junge Mann ist fort. Eingewiesen. Unter dem Stuhl liegt nur noch das Taschentuch. Er hat es verloren auf der Endstation.

Christiane Tramitz

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