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90 Prozent der Transmenschen in Brasilien arbeiten in der Prostitution. Und werden selbst da geächtet.

© imago/Action Pictures

Gewalt gegen Transgender in Brasilien: Bedroht, verfolgt und verschwunden in Rio

Sie waren Nachbarn, jetzt ist ihr Telefon tot, und unser Autor sucht die Stadt nach ihr ab. Die Transfrau Thais arbeitete als Prostituierte – eine gefährliche Kombination in Brasilien.

Thais war 26, als ich neben ihr einzog. Avenida Prado Júnior, Rio de Janeiro. Elfter Stock, ich im Apartment 22, Thais gegenüber. Wir hatten schnittgleiche Wohnungen, 30 Quadratmeter, Kochnische, falsches Fischgrätparkett und Azulejo-Fliesen, die Klotür aus Plastik ratschte beim Öffnen, als zöge man Rollladen durch eine rostige Schiene. Wir trafen uns, wie man Nachbarn so trifft, auf dem Gang, im Aufzug, in den Läden, Bars und Restaurants. Manchmal stießen wir, spätnachts, überarbeitet oder schlaflos, aufeinander, im Cervantes, dem Sandwichladen an der Ecke. Standen dann stundenlang, das Sandwichpapier noch in der Hand, an unsere Wohnungstüren gelehnt und quatschten. Am Tag, als ich nach Deutschland zurückkehrte, versprach ich, Bescheid zu sagen, sollte ich zurückkommen.

Acht Jahre später, Sommer 2018, plante ich, nach Rio zu reisen, einige Wochen zuvor rief ich Thais an. Es knarzte und ziepte, dann sagte eine elektronische Frauenstimme auf Portugiesisch: „Diese Nummer existiert nicht.“ Ich fragte gemeinsame Bekannte, meine damalige Mitbewohnerin. Keiner wusste etwas. Online war sie schon damals nicht zu finden, sie misstraute dem Internet.

Für einen kurzen Moment dachte ich, vielleicht hat Thais einfach woanders neu angefangen. Ich wusste, das ist unwahrscheinlich. Die Avenida Prado Júnior hat schon viele verschluckt. Vor allem Menschen wie Thais. Sie ging dem gefährlichsten Beruf der Welt nach, in seiner gefährlichsten Form. Sie erzählte mir Geschichten, von Verschollenen, Entführten, Ermordeten. Thais hätte sich von Freunden, Bekannten verabschiedet, um zu signalisieren: Alles gut bei mir. Da war ich mir sicher. Es musste also etwas anderes sein, dachte ich mir, ich würde in der Prado Júnior vorbeischauen.

Sie lebte im Herzen der Rotlichtbranche

Von der Prado Júnior ist es nicht weit nach ganz oben, 30 Meter zum Windsor, 300 Meter zum Hilton, 700 Meter zum Copacabana Palace, wo einst Marlene Dietrich sang. Davor der Strand, Postkartenmotive und Kokosnusswasser, und die einzig sinnvolle Hintergrundmusik aus Fahrradlautsprechern, der Bossa nova, der unweit von hier geboren wurde.

Genauso weit ist es nach ganz unten, dorthin, wo Thais arbeitete. Im Ciccolina, einem der bekanntesten Puffs Rios. Im Café Sensoo mit den roten Lackstiefeln im Fenster. Im Barbarella, im Dolce Vita. Am Ende der Prado Júnior wo die Lockrufe, psst, querido, – psst, Liebster – von allen Seiten kommen, vor der 24-Stunden-Apotheke, wo Kondome und Gleitcremes, Wund- und Heilsalben erwerblich sind.

Prostitution ist in Brasilien legal, Teil des Straßenbildes in jeder Großstadt, Prostituierte arbeiten bisweilen bargeldlos, mit Arbeitspapieren, es gibt die Wahl zur „Miss Prostituta“. Laut offiziellen Schätzungen arbeiten rund eine Million Prostituierte im Land, je nach Verband wird mit dem fünf- bis zehnfachen davon gerechnet. Es gibt ganze Prostituiertenviertel, Jardim Itatinga in Campinas gilt als das größte der Welt, die Ladeira da Montanha in Salvador wurde von Jorge Amado, die Vila Mimosa in Rio von Stefan Zweig beschrieben.

Thais lebte und arbeitete im Herzen dieser Branche. Laut einer Studie der Johns-Hopkins-Universität wird man in keinem anderen Beruf so wahrscheinlich Opfer eines Mordes. Für Thais galt das doppelt. Weil sie anders war. Was ihr Leben hier sehr viel gefährlicher machte als sie das, vor mir, und wohl auch sich selbst, zugeben wollte. Thais wurde als Mann geboren. Und Brasilien ist weltweit eines der gefährlichsten Länder für Transmenschen.

Alle 48 Stunden wird ein Transmensch ermordet

Wie Thais zu ihrer Geburt hieß, sagte sie mir nicht, ich fragte auch nie. Sie erzählte wenig aus ihrer Kindheit, in Teresópolis, der schönsten der alten deutschen Siedlungen im Bundesstaat Rio de Janeiro. Über der Stadt erhebt sich, wie eine Mahnung, ein spitzer Fels, der „Finger Gottes“. Thais’ Mutter war Hausfrau, putzte bei wohlhabenderen Nachbarn, ihr Vater war Beamter der Stadtverwaltung. Ihre Jugend war, so erzählte sie es, ereignislos. Bis zu dem Moment, als sie sie selbst wurde. Mit 15? 18? 20? Klar ist, als sie in der Avenida Prado Júnior einzog, war sie, zweifellos, Thais.

Die Straße, die sie aufnahm, ist ein Netzwerk, wie es in vielen brasilianischen Großstädten existiert. Es gibt hier Unterkünfte und Beratung für frisch angekommene Transmenschen aus dem Hinterland, wo viele vor Gewalt und Ausgrenzung fliehen. 752 000 Transpersonen leben, laut einer Schätzung des größten Trans-Verbands ANTRA, in Brasilien. Es existieren Solidaritätskundgebungen, die Pride Parades in São Paulo und Rio gelten als die zwei größten der Welt, riesige Murals, 40 auf 10 Meter, in São Paulos angesagtestem Park, der stillgelegten Hochstraße Minhocão, zeigen Bilder von stolzen Transmenschen. Einer der größten Popstars des Landes, Pablo Vittar, ist ein Transmann und nirgendwo fließen die Gender wie im Karneval.

Und trotzdem, so erzählte mir es Thais damals, und so hörte ich es später auf der Suche nach ihr, immer wieder, gibt es kein Land, in dem Transmenschen gefährlicher leben.

Brasilien ist Weltrekordhalter in Gewalt gegen Transpersonen. Von ANTRA bekomme ich die Zahl: Alle 48 Stunden wird hier rechnerisch ein Transmensch ermordet, 170 Menschen allein in 2017. Ich schreibe die Menschenrechtsgruppe „Grupo Gay da Bahia“ an, ihre Zahl ist ähnlich: 445 LGBT-Personen wurden 2017 getötet, davon mehr als die Hälfte Trans.

Thais wohnt nicht mehr hier

Im Sündenviertel Vila Mimosa. Eine Prostituierte wartet auf Kunden.
Im Sündenviertel Vila Mimosa. Eine Prostituierte wartet auf Kunden.

© imago/Zuma Press

An einem der Abende in Rio sitze ich in meiner Unterkunft, 15 Minuten von der Prado Júnior entfernt, und verliere mich im Googeln. Ich stoße auf ein Video, in dem eine Transfrau namens Dandara vor laufender Kamera totgeschlagen wird, das Video hat hunderttausende Klicks, ich finde dutzende Versionen davon, darunter eines der britischen Boulevardzeitung „Daily Mirror“. Ich finde Videos von Evangelikalen, die Transmenschen „heilen“ wollen, und Reden des rechtspopulistischen Präsidentschaftsanwärters Jair Bolsonaro, der dafür wirbt. Ich versuche mehrfach, mich in Rio mit Bruna Benevides zu treffen, der ersten Trans-Stadträtin Brasiliens, um mit ihr über die Arbeitssituation von Transmenschen in Brasilien zu sprechen. Sie sagt die Treffen kurzfristig ab, verweist auf Dokumente von ANTRA: Der Arbeitsmarkt ist nahezu abgeriegelt, steht darin. Rund 90 Prozent der Transbevölkerung, so die Schätzung, arbeiten oder arbeiteten deshalb in der Prostitution. Und selbst hier, in den klassischen Prostitutionsvierteln, werden sie geächtet. In der Vila Mimosa in Rio etwa gilt: keine Trans, keine Homosexuellen. Deshalb die Prado Júnior.

Ich nehme die Metro nach Copacabana, laufe, vorbei an Saftläden, Schuhgeschäften, Cervantes’ Sandwichladen, in Richtung Prado Júnior 281. Am Hauseingang sitzt unter falschen Marmorplatten ein gelangweilter Wächter. Er kenne die Bewohner von 2010 nicht, er arbeite erst seit vier Jahren hier. Ich klingele an der Tür des Apartments 21, eine alte Frau öffnet die Tür, „Nie gehört“, sagt sie. „Da wohnt ein Ehepaar, soweit ich weiß.“ Die Vormieter kenne sie nicht. Thais, so viel ist sicher, wohnt nicht mehr hier.

In der Wäscherei Buenos Aires, wo Thais an Wochenenden vor den Trommeln stand, mit den Fingern einen Rhythmus auf der Maschine klopfte, ungeduldig, um nach lästigen Erledigungen den Tag beginnen zu können, zieht die Frau an der Kasse die Schultern hoch. Der Name sage ihr nichts. „Es ist ja nicht so, als kenne man sich in dieser Art von Nachbarschaft.“

Am Anfang verkaufte sie Käsebällchen

An der Ecke Prado Júnior und Nossa Senhora de Copacabana, wo der stete Wind vom Atlantik durch die Häuserreihen inland weht, beschreibe ich dem Kellner des Café Dante Thais’ Aussehen, dass sie hier gern frühstückte, als es noch ein Saftladen war. „Bei uns stehen eine ganze Menge von denen herum“, sagt er, „man kann sich ja nicht jeden Namen merken.“

Die Verkäuferin am Tabakstand vor dem Barbarella, einem der Lokale, in denen Thais verkehrte, erinnert sich nicht. „Liebster“, sagt sie und wedelt eine bis auf den Filter heruntergebrannte Zigarette vor meinem Gesicht, „die Leute kommen und gehen. Bin immer nett zu denen, sind ja auch nett zu mir. Gott sei mit ihnen.“

2009, im Februar, wenn Rio unerträglich heiß ist, schwül und windstill, kam Thais am Busbahnhof Novo Rio an, mutmaßlich ohne die Absicht, in der Prostitution zu arbeiten. In ihrem Gepäck hatte sie einen Stapel Kopien ihres Lebenslaufs verstaut, die sie schon am ersten Tag nach dem Einzug an Geschäfte in der Umgebung verteilte. Sie wollte, wie alle Töchter und Söhne der Mittelschicht, eines vermeiden: Dort oben auf den Hügeln, in eine der Favelas ziehen zu müssen.

Sie begann in einem der Mate-Läden an der Metrostation Siqueira Campos zu arbeiten, wo die Favelas Ladeira dos Tabajares und Morro dos Cabritos, das Herz Copacabanas überblicken, wie früher der Finger Gottes ihre Jugend. Zwei Monate lang verkaufte sie Käsebällchen und Sandwiches; zuckrige Teigrollen, kalten Mate-Tee, Guaraná, Açai. Dann wurde ihr gekündigt, Grund unbekannt. Thais sagte, weil sie Trans ist und der Chef befunden habe, das verstöre die Kundschaft.

Ich frage im Laden nach, die Dame schüttelt den Kopf, Thais, keine Erinnerung daran. Vielleicht eine andere Filiale? Es gibt zwei weitere „Rei do Mate“ hier, zwei „Megamatte“, ein „Big Mate“, in keinem kennt man Thais. Ich frage mich, ob alle so vergesslich sein können. Gab sie einen anderen Namen an? Arbeitete sie überhaupt hier?

Bis zum nächsten Mal, Liebster

In Rio werden Telefonzellen oft mit Anzeigen von Sexarbeiterinnen und Transsexuellen zugepflastert.
In Rio werden Telefonzellen oft mit Anzeigen von Sexarbeiterinnen und Transsexuellen zugepflastert.

© imago/Zuma Press

Wenn Thais aus ihrem Leben erzählte, tat sie das stets im Überschwang, laut, fingerzeigend, mit Klatschen und Schnipsen. Sie lachte, wenn es nichts zu lachen gab und schaute ernst nach der Pointe eines Witzes. Hielt inne. Und lachte erneut los. Ihre Geschichten wirkten sorgsam konstruiert, wie viel aber davon wahr ist, wer weiß? Wer überprüft schon die Aussagen einer Nachbarin? Was sicher ist, was wahr und überprüft ist, ist lediglich das, was in der Avenida Prado Júnior 281, zwischen April und Juli 2010 geschah. Und das, was im Nachhinein, 2018, noch davon aufzuspüren ist.

Nach ihrer Kündigung liefen wir uns öfter im Gang über den Weg, dann, etwa zwei Wochen später, begann ich jeden Abend, das Klackern ihrer Absätze zu hören. Sie achtete auf einen eleganten Gang, in hohen, spitzen Schuhen, selbst wenn sie Hausrat zur Müllklappe schleppte. Die Tür quietschte, manchmal pfiff Thais ein Lied, manchmal bellte ihr Hund, ein kleiner, beige-weißer Terrier, oft winselte er, bis sie zurückkam. Zwischen zehn und zwölf erschien das Klackern ihrer Absätze wieder, begleitet von einem dumpfen Tappen. Später, nach ein oder zwei Stunden, quietschte die Tür wieder, ein Paar Schuhe verließ die Wohnung. Manchmal mit einer Verabschiedung, até a próxima, amor, bis zum nächsten Mal, Liebster.

Die Männer, die zu ihr kamen, waren sicher nicht arm

Thais klebte ihr Foto in das Innere der violetten, gelben und grünen Telefonzellen der verschiedenen Anbieter Brasiliens, darunter ihre Kontaktdaten. Groß, schlank und dunkel war sie, ihre Haare stets frisch geglättet, mit auswachsenden, hellen Spitzen. Die Gesichtszüge fein, der Hals gestreckt, als sei sie permanent dabei, etwas zu schlucken. Oft stellte sie sich zusätzlich ans Ende der Prado Júnior, und wartete, flüsterte ihr psst, querido. Die Männer, die zu ihr kamen, waren meist wohlhabend, nicht zwingend reich, aber – Fingerschnipsen – arm waren die sicher nicht. In der Prado Júnior und in Glória, dem anderen Transstrich der Stadt, verkehrt eine seltsame Mischung der Bevölkerung Rios, Banditen und Krawattenträger, die sich sonst nur bei einem Überfall über den Weg laufen würden. Sie erzählte, dass man von dem Job leben könne, dass sie damit kein Problem habe, dass sie nicht unbedingt damit hausieren gehe, dass sie sich nicht schäme, aber …

In der Telefonzelle an der Ecke Prado Júnior und Viveiros de Castro kleben hunderte Anas, Tatianas, Brunas, Larissas, Livias. Hin und wieder eine Thais, Thays, Thayse, darüber das Bild einer Fremden.

Frage an die Dame der 24-Stunden-Apotheke. Eine Thais? „Leider nein.“

Gefoltert, gesteinigt und hingerichtet

Eine Möglichkeit habe ich mir von vornherein offen gelassen. In der Hoffnung, sie nicht zu nutzen. Der Plan war: Ich finde Thais. Nicht: Ich bestätige, dass Thais nicht zu finden ist. Ich lasse eine Woche vergehen, dann zwei, in der Zwischenzeit gehe ich immer wieder in die Prado Júnior, zu Cervantes, ans Ende der Straße, an den Strand, setze mich, an der Ecke vor der Nummer 281, in Dantes Café und warte.

Dann, irgendwann, nehme ich mein Telefon und rufe an, einige Minuten später poppt in meinem Mailfach eine Liste auf. Letzte Einträge der Beobachtungsstelle für Gewalt gegen Transmenschen, nur für Rio de Janeiro, nur im ersten Halbjahr, fast alle Prostituierte: 22. Juni 2018, Nikolly Silva, unbekanntes Alter, gesteinigt. 19. Juni 2018, Bebê, 33 Jahre alt, erschossen, 7. Mai 2018, Matheus Passarelli Simoes Viera, 21 Jahre alt, totgeschlagen und verbrannt. 30. April 2018, Raunna Silva, etwa 25 Jahre alt, erschossen. 30. April 2018, nicht identifiziert, unbekannte Todesursache. 3. April 2018, Andressa Muda, 30 Jahre alt, unbekannte Todesursache. 17. März 2018, nicht identifiziert, gefoltert, hingerichtet. 1. März 2018, Alessandra da Silva Alves, 50, erschossen. 23. Februar 2018, Claudia Oliveira, erschossen. 1. März 2018, Nayara Montenegro, 30, erschossen. Danach, eine doppelt so lange Liste von versuchten Morden und eine endlose Liste an schweren Körperverletzungen.

Keine Thais.

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