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Cricket enthält in Indien ein Aufstiegsversprechen, weshalb gerade Jungs aus heruntergekommenen Stadtteilen und Provinzen am hungrigsten sind.

© dpa

„Golden Boy“ von Aravind Adiga: Spielfeld des Lebens

Zwei Brüder, ein Spiel: Cricket. Aravind Adigas neuer Roman erzählt vom Erwachsen-Werden in einer Welt zwischen Tradition und Moderne - und vom Kampf gegen das eigene Begehren.

Indien, belehrt uns Aravind Adiga in seinem neuen Roman „Golden Boy“, sei ein Land, das eigentlich nur zwei Religionen kenne: Kino und Cricket. Wenn man am Ende der Geschichte von Manju und seinem Bruder Radha angelangt ist, mag man das gerne glauben: Es gibt eigens Hindu-Tempel, in denen für eine Karriere als Cricket-Schlagmann in den großen Ligen des Landes gebetet wird; es gibt Rituale, die an kirchliche Zeremonien erinnern; Keuschheitsgelübde, um sein Talent nicht im Sumpf niederer Instinkte untergehen zu lassen. Baseball, die amerikanische Variante, gilt den wahren Cricket-Kennern als Trash – eine schmutzige Version eines reinen, edlen Sports, dessen größte Könner in England, Australien und Indien zu finden sind.

Cricket lockt, wie der Fußball in manchen Weltgegenden, mit der Aussicht auf ein besseres Leben: Wer es in die großen Teams schafft, entkommt den Slums, dem Los der Armut und der Gewöhnlichkeit. Helden tragen hier einen Schläger unterm Arm, bestimmte Spiele haben den Status von Nationalmythen. Cricket, einstmals Sport der oberen Schichten, enthält ein Aufstiegsversprechen, weshalb gerade die Jungs aus den heruntergekommenen Stadtteilen und den Provinzen am hungrigsten sind und nach Erfolg dürsten.

Der 1974 geborene indische Autor und Journalist Aravind Adiga, der mit seinem Roman „Der weiße Tiger“ vor acht Jahren einen Weltbestseller gelandet hat, erzählt von all dem. Und er erzählt von der Korruption dieser heiligen Institution durch Wettbetrüger und windige Geschäftsleute, von rührigen, aber abgehalfterten Talentscouts und ehrgeizigen Vätern, die für das Vorankommen ihrer Söhne alle Schamgrenzen überschreiten und jegliches pädagogische Maß aus dem Auge verlieren. Das allerdings wäre noch nicht allzu spannend – zumal nicht nur hierzulande Cricket kaum als Inbegriff einer aufregenden Sportart gilt. Groucho Marx soll beim Stadionbesuch nach einer Stunde eines Spiels gefragt haben: „Wann fängt es denn endlich an?“

Aber keine Sorge, langweilig ist dieses Buch nicht, es hat eher Schmökerqualitäten. Zwar bildet Cricket das Spielfeld des Romans, es dient als Schauplatz für alle möglichen sozialen Verwerfungen und Wandlungen in der indischen Gesellschaft – im Zentrum des Matches aber stehen zwei Brüder, die schon erwähnten Manju und Radha, die von ihrem Vater zu einer großen Karriere getrieben werden und in einen Strudel unterschiedlichster Ansprüche geraten. Cricket mit seinen „Bats“, „Bowls“ und „Läufen“ wird bei Adiga zur Metapher für das Spiel des Lebens: Manju, der Jüngere und Talentiertere der Brüder, lernt dadurch nicht nur eiserne Disziplin – er fightet selbst mit gebrochenem Daumen weiter als sei nichts geschehen. Er verleugnet auch nach und nach seine eigentlichen Bedürfnisse, sein Begehren. Den Traum von einem Studium der Naturwissenschaften lässt er ebenso platzen wie er seine homosexuellen Neigungen, die mit zunehmendem Alter immer stärker werden, unterdrückt. Am Ende wird er eine fragwürdige Laufbahn als Cricket-Spieler machen; aber er bezahlt dafür einen hohen Preis.

Eine Welt zwischen Tradition und Moderne

Während Manju sich aus der Welt, in der er reüssiert, innerlich zurückzieht, schafft es sein wie ein Bollywood-Star aussehender Bruder Radha nicht, mit den an ihn gerichteten Erwartungen umzugehen. Er rastet irgendwann aus, kommt auf die schiefe Bahn und von dort nicht mehr zurück zu sich. Der strenge und zugleich einfältige Vater ist für seine Söhne eine Instanz, gegen die sie sich erst spät aufzulehnen getrauen; die entschwundene Mutter wird vor allem für den jungen Manju zum Traumbild, zu einer Sehnsuchtsfigur, an die in der Realität niemand heranreicht.

Aravind Adiga gelingen mit den beiden Brüdern komplexe, miteinander unweigerlich verwobene Charaktere, die umschwärmt werden von eindrücklich gezeichneten Nebenfiguren. Am wichtigsten ist dabei Manjus Freund Javed Ansari, seine Spiegelgestalt. Dieser kommt aus reichem Haus, hat die natürliche Arroganz dessen, der nichts beweisen muss. Javed will Manju aus seiner engen Welt befreien, ihn ein hedonistisches Dasein lehren und mit seiner Homosexualität versöhnen – dass Schwule in der indischen Gesellschaftsordnung nicht vorgesehen sind und Diskriminierung ertragen müssen, setzt vor allem Manju unter gehörigen Druck.

Schwulsein in Indien - dem Druck hält er nicht stand

Ein Druck, dem er nicht standhält. Seine Zerrissenheit, seine Verlorenheit ist in vielen Szenen zu spüren. Auch wenn Manju fast alle seine Spiele gewinnt, auch wenn er die Trainer und Zuschauer beeindruckt, am Ende verliert er doch die entscheidenden Partien seines Lebens. Die Angst nicht zu genügen, die Angst anders zu sein, hat sich in ihn eingenistet. Der „Golden Boy“, zum Glänzen geboren, wird am Ende, noch keine 30 Jahre alt, von seinem Verein entlassen, und in einer kathartischen Schlussszene trifft er wieder mit seinem Bruder zusammen. Zumindest Radha ahnt die bittere Wahrheit: „Jeder muss sich für etwas aufopfern: Wir aber haben uns für die Mittelmäßigkeit geopfert.“

Aravind Adiga hat eine Geschichte über zwei junge Männer geschrieben, die in einer Welt zwischen Tradition und Moderne, zwischen Doppelmoral und Geschäftemacherei aufgerieben werden – ein kurzweiliger Roman, souverän aus dem Englischen übersetzt von Claudia Wenner.

Aravind Adiga: Golden Boy. Roman. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Verlag C.H. Beck, München 2016. 338 Seiten. 21,95 €.

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