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Erneuerin des Essays. Die amerikanische Schriftstellerin Maggie Nelson.

© Mauritius/Dan Tuffs/Alamy Stock Photo

Maggie Nelsons "Die Argonauten": Meine queere Kleinfamilie

Wie man ein anderer wird, um derselbe zu bleiben: Maggie Nelsons Essay "Die Argonauten" ist eine scharfsinnige Expedition ins Dickicht der Gender-Theorien - und ein Abenteuer am eigenen Leib.

Von Gregor Dotzauer

Eine Traumfamilie. Mutter, Vater und lang ersehntes Kind, mit einem älteren Stiefsohn auf Patchwork-Format gebracht. Sie ein quirliges Wesen mit langen blonden Haaren, er ein vollbärtiger muskulöser Kerl. Ein einander in unübersehbarer Liebe zugetanes Ehepaar, das sich die Erziehung des kleinen gelockten Iggy wie selbstverständlich teilt. Was für ein diebisches Vergnügen, wenn sie in den Augen von anderen ein so vollkommenes Bild abgeben. „Wenn die wüssten“, denken sie dann, aber nachdem Maggie Nelson in ihrem Essay „Die Argonauten“ jeden wissen lässt, wie sie und Harry Dodge das Konzept Familie einem queeren Umbau unterziehen, ist es nur ein Moment subversiver Genugtuung in einem sonst offen geführten Kampf.

Das Bild von den mythischen Argonauten und ihrem Schiff, der Argo, deren Einzelteile in voller Fahrt nach und nach ersetzt werden, bis sie grunderneuert in Kolchis einläuft und doch immer noch die Argo ist, hat Maggie Nelson von Roland Barthes übernommen. Was ihm, dem Zeichentheoretiker, als Metapher für seine wissenschaftliche Tätigkeit diente, muss man bei ihr sehr viel wörtlicher nehmen: Wie man ein anderer wird, um derselbe zu bleiben, ja ob man derselbe bleibt, wenn man ein anderer wird, dieser zwischen Spiel und Ernst changierende Prozess erfährt hier eine radikale Interpretation.

Nelson nimmt kein Blatt vor den Mund

Die In-vitro-Fertilisation der lesbischen Femme Maggie Nelson, zwangsläufig mit dem Sperma eines fremden Mannes, mag seit dem späten 20. Jahrhundert zu den medizinischen Selbstverständlichkeiten gehören. Harriet „Harry“ Dodges Transformation von der selbsterklärten „Butch auf Testosteron“ zum brustamputierten Künstler Harry Dodge, der in einem Jenseits der Geschlechter wahrgenommen werden will, irritiert anfangs selbst Maggie. Während sie wutschnaubend den Zeitungsartikel einer Mutter liest, die sich nicht daran gewöhnen will, dass ihre Tochter zum Mann geworden ist, erinnert sie sich an ihre eigene Panik im Angesicht von Harrys Hormonbehandlung. Und sie findet sogar die Frage, die Molly Haskell in ihrem Buch über die Geschlechtsmetamorphose des eigenen Bruders stellt, nicht mehr absurd: „Wo ordnen wir es in die Taxonomie der Lebenskrisen ein, wenn die Befreiung einer Person für einen anderen Menschen einen Verlust darstellt?“

Maggie Nelson schreibt latent aggressiv bis leidenschaftlich polemisch gegen alles an, was die queere Theorie das Heteronormative nennt. Sie stichelt gegen Menschen, die es sich in ihrer herkömmlichen Geschlechteridentität bequem machen, aber sie widersteht auch der umgekehrten Selbstgerechtigkeit, soweit es ihr gelingt. „Die Argonauten“ ist nicht nur deshalb ein scharfsinniges Buch, weil es, durchsetzt von unzähligen kursivierten, am Rand auf den jeweiligen Urheber verweisenden Zitaten, eine kompakte, stilistisch unverblasene Einführung in den intellektuellen Kosmos der Gender Studies bietet und von Eve Kosofsky Sedgwick bis zu Beatriz Preciado einen nicht allgemein vertrauten Kanon queeren Denkens entwirft. In einer Mischung aus Erzählen und Reflektieren überprüft Nelson jede vermeintliche Gewissheit rücksichtslos am eigenen Leib. Schamlos, bis in die Bereiche des Obszönen hinein, erkundet sie ihre Sexbesessenheit und nimmt, wo es um queere Pornografie, Dildos und sodomitische Mütterlichkeit geht, kein Blatt vor den Mund.

Zugleich gelingt ihr ein warmherziges, einfühlsames Stück Literatur, das sich in seiner aus Fragmenten komponierten, an der Chronologie rüttelnden, immer wieder neu ansetzenden, abschweifenden und ausschweifenden Form ständig selbst umbaut, dabei jedoch auf eine dramaturgische Klimax zusteuert, bei der Iggys Geburt und der Krebstod der Schwiegermutter zusammenfallen.

Meisterhafte Verschränkung von Theorieehrgeiz und Bekenntnishaftigkeit

Maggie Nelson, 1973 in San Francisco geboren, hat sich seit Jahren als Erneuerin des essayistischen Schreibens einen Namen gemacht. „Jane – A Murder“ (2005) ging in einem Genremix aus Gedichten und Prosaschnipseln der Ermordung ihrer Tante nach. „Bluets“ (2009) huldigte in 240 Kapiteln den unterschiedlichsten Erscheinungsformen der Farbe Blau. „The Art of Cruelty“ (2012) wiederum, eine Untersuchung zur Darstellung von Grausamkeit in der zeitgenössischen Kunst, bewegte sich noch am ehesten in den Gefilden einer Kulturkritik, wie sie Susan Sontag, die darin eine wichtige Stimme bekommt, so überzeugend beherrschte.

Mit den „Argonauten“, die ihr 2015 einen National Book Critics Circle eintrugen, hat sie die Verschränkung von Theorieehrgeiz und Bekenntnishaftigkeit auf eine ungewöhnliche Spitze getrieben. Die Euphorie, mit der sie ihren schwangeren Körper betrachtet, wird gebrochen durch psychoanalytische Erwägungen, welchen Normen sie sich damit unterwirft. Maggie Nelson, die von sich behauptet, keine besondere Erfindungskraft zu haben, aber das Bedürfnis verspürt, sich über das, was ihr zustößt, möglichst klar zu werden, zählt ihr Schreiben zum weiten Feld des „life writing“. Zumindest in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der im Privaten zugeknöpften Susan Sontag, die sich erst posthum in ihren Tagebüchern aus der Deckung wagte. Und doch wacht auch Nelson sorgfältig darüber, was sie preisgibt und was sie verschweigt.

Das Aufregendste an der abenteuerlichen Stofffülle dieses Bandes sind vielleicht die moralischen Probleme, die er behandelt: diejenigen, die er heldenhaft aufgreift – und diejenigen, die er bestenfalls andeutet. Die Kosten einer künstlichen Befruchtung wie die jeder medizinischen Intervention muss man erst einmal tragen können; die Gestaltungsfreiheit hängt, wie Maggie Nelson aus eigener Erfahrung weiß, unmittelbar an der Gerechtigkeitsfrage. Aber selbst wenn sie geklärt wäre, stünde all das, was hier in einem emanzipatorischen Rahmen als legitime Verfügungsgewalt über den eigenen Körper diskutiert wird, in einem nächsten Schritt über die allgemeinen Grenzen der Selbstermächtigung zur Debatte.

Gibt es ein Recht auf genetische Manipulation?

Unter welchen Umständen gibt es künftig ein Recht auf genetische Manipulation für jedermann? Gibt es womöglich gar ein Recht auf Selbstverstümmelung? Und worin unterscheidet sich das Jugendlichkeitsbedürfnis der Sängerin Cher, einem gut aufgeräumten Schlachtfeld der plastischen Chirurgie, von der Geschlechtsangleichung ihres Sohnes, des Transmanns Chaz Bono, den Nelson einmal als machistische Enttäuschung der queeren Gemeinschaft charakterisiert?

Es ist ein kurzes Innehalten, bei dem Maggie Nelson der Glauben, Teil einer linken Gegenkultur zu sein, die der Mehrheitskultur ihre Selbstgenügsamkeit auszutreiben vermag, unheimlich wird. Immerhin scheut sie sich nicht, ihren Kinderwunsch als Zerrbild eines heterosexuellen Wunschs nach narzisstischer Spiegelung darzustellen, nämlich als Fantasie „von einer feministischen Tochter, einer Mini-Me. Eines Mädchens, dem ich Zöpfe flechten könnte, das mir beistehen könnte als eine alliierte Femme im Haus“.

Das Paradies ohne Namen

Es hält sie indes nicht von Überlegenheitsgefühlen ab, wenn sie linken Stardenkern wie Slavoj Žižek oder Alain Badiou in die Gockelparade fährt und ihnen ihre Verliebtheit in die Geschlechterdifferenz vorhält. Žižek mag ein lüsterner älterer Herr sein, der gerne geschmacklose Witze erzählt, um ihnen psychoanalytische Wahrheiten zu entlocken. Aber seine Gewissheit, den weiblichen Körper zu begehren, ist nur die andere Seite des fundamentalen Zweifels, den Nelson, in der Gewissheit ihres eigenen Begehrens, mit Blick auf Harrys Genderfluidität sät.

Hier dürfte auch der Schlüssel zu ihrem geradezu paradoxen Bemühen liegen, Wahrheiten festzuhalten und gleich wieder auszustreichen – ganz so, wie Harry zum Mann wurde und doch keiner sein will. Nelson versucht, die Dinge um jeden Preis in einem unklassifizierten Fluss zu halten. Denn mit John Cage teilt sie den Impuls: „Befrei dich aus jedem Käfig, in dem du dich befindest.“ Diese Fantasie eines Paradieses, in dem nichts einen Namen hat und alles nur es selbst ist, hat etwas für sich. Darin leben kann man nicht. Maggie Nelson könnte daher nichts Besseres passieren, als dieses Buch in dreißig Jahren, wenn sie und Harry als altes Paar im Garten sitzen und Besuch von einem erwachsenen Iggy bekommen, noch einmal zu schreiben. Vielleicht haben sie, die Argonauten, bis dahin ihr Goldenes Vlies gefunden.

Maggie Nelson: Die Argonauten. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin 2017. 189 S., 20 €.

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