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Burkhart Seidemann (1944-2016).

© Imago

Nachruf auf Burkhart Seidemann (Geb. 1944): Die Kunst der stummen Rede

Christ, Clown, schwuler Bohemien: Burkhart Seidemann war erst Pfarrer auf dem Land dann Pantomime in der Stadt. Er gründete die Hackesche-Hof-Bühne und liebte einen Puppenspieler. Ein Nachruf.

Der Vater war im Krieg verschollen, einen neuen Mann gab es nicht im Leben der Mutter, und Burkhart war glücklich darüber. Denn in vielen Familien, wo die Männer nach Jahren der Gefangenschaft heimkehrten, körperlich und seelisch verkrüppelt, gab es kein gutes Zusammenleben mehr. Burkharts Mutter stammte aus einer adligen französischen Familie, aber sie hatte ihrer Herkunft zum Trotz bürgerlich geheiratet.

Vom großen Vermögen der Vorfahren waren nur noch einige prächtige Möbel übrig, die zierten den kleinen Haushalt in Weimar. Beengt war es, aber ein buntes Kommen und Gehen in der Villa Altenburg, wo einst Liszt gewohnt hatte und viele andere Berühmtheiten Weimars ein- und ausgegangen waren.

Er begann eine Kunstschmiedelehre und wechselte abrupt zur Theologie

Burkhart wusste früh, er würde auch Künstler werden. All seine Talente wiesen darauf hin. Er zeichnete, malte, schrieb, sammelte schöne Bücher, wertvolle Drucke, kurzum: Fürs gewöhnliche Leben war er verloren. Das sahen die Lehrer auch so und winkten ihn gnadenhalber durch alle Abiturprüfungen. Er begann eine Kunstschmiedelehre bei dem berühmten Metallbildhauer Günther Laufer und wechselte nach einem Jahr unvermittelt zur Theologie, weniger aus religiöser Inbrunst als vielmehr aus Aversion gegen alle staatlichen Ausbildungszwänge.

Burkhart konnte nicht singen, kannte kaum die alten Sprachen, glaubte keinem Dogma, aber er konnte gut mit Menschen umgehen. Bis ihn das Vikariat aufs Land verschlug. Auch wenn ihn das mundfaule Landvolk halbwegs herzlich aufnahm, war ihm schnell klar, dass ein schwuler Bohemien und pantomimischer Muntermacher wie er eine andere Bühne brauchte.

Die Pantomime als Tanz mit dem eigenen Ego

Schon während seines Theologiestudiums hatte er bei dem Bewegungskünstler Harald Seime eine Ausbildung als Pantomime absolviert. Er war fasziniert, wie sich Ungesagtes, Unsagbares durch die Mimik des Gesichts und die Rhythmik des Körpers so unmittelbar einleuchtend für die Augen und das Herz darstellen ließen. Die direkte gefühlige Äußerung war nie seine Art gewesen, seine verschüchterten Jugendlieben hatten wenig Aufschluss über seine emotionale Orientierung gebracht, aber die Pantomime, die war wie ein Tanz mit dem eigenen Ego, und mit dem der Zuschauer. Mit einem Mal wusste er, was er wollte.

„Pantomime“, so erläuterte er es selbst in einem langen Interview mit der rumänischen „Allgemeinen Deutschen Zeitung“, „ist die erste Sprache, die wir gelernt haben. Wir leben ja in einer gefühlsverängstigten Welt. Wir geben keine Gefühle preis. Das Wertvollste, was Theater überhaupt bieten kann, ist, dass es Gefühle wieder anschaubar macht, zulässt. Pantomime ist Musik für die Augen.“

Seltsamerweise kam es nie zum Konflikt mit der Staatsführung

Es begann eine ganz andere Choreografie seines Lebens, auch in der Liebe. Er traf auf den Puppenspieler Peter Waschinsky, der seine Sexualität schon viel freier lebte und Burkhart auch direkt auf das Thema Homosexualität ansprach, bis der pastoral-umständlich gestand: „Ja, mich betrifft das auch.“ Die beiden wurden ein Paar, einander zugetan, ohne aneinandergekettet zu sein, und blieben es bis zum Schluss.

Zum Konflikt mit der Staatsführung kam es seltsamerweise nie, er wurde verhört, aber nicht verhaftet. „Es gab Sprechverbote. Ja, es war auch im Sozialismus so. Die glaubten an das Wort. Die Kommunisten waren sehr fromm. Die dachten, wenn sie eine Losung an die Wand schreiben (Vaterland, Frieden, Sozialismus – wir siegen!), war das so wie ein Gebet, das die Wirklichkeit zu verhexen hat. Es ist kurios – sie waren Wortfetischisten. Wenn jemand ein falsches Wort sagte, das war strafbar. Wir waren aber Pantomimen. He! Uns konnte man nicht beim Wort erwischen. Wir haben nur etwas dazwischen gemacht. Und daneben.“

In Ost-Berlin spielte er mit der Pantomimentruppe am Deutschen Theater

Burkhart Seidemann (1944-2016).
Burkhart Seidemann (1944-2016).

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Burkhart ging nach Ost-Berlin und schloss sich der Pantomimengruppe um Volkmar Otte an. Der hatte das erste Off-Theater der DDR gegründet und 1974 durchgesetzt, dass ein eigenständiges Pantomime-Ensemble am „Deutschen Theater“ eine Wirkungsstätte fand. Das Publikum liebte die Pantomimen, denn ihr Spiel war frei von Phrasen. An die Körper wagten sich die Zensoren nur selten heran. Die Zuschauer wiederum spürten, welche Freiräume sich da auftaten. Pantomime „lebt nicht nur davon, dass man vorführt, sie muss immer auch darauf warten, dass der Zuschauer es wahrgenommen hat. Das ist wie eine stumme Rede und Gegenrede. Ich mache etwas, und jetzt muss ich warten – ah, haben die das verstanden? – und jetzt spiel’ ich wieder weiter.“

Aber so erfolgreich die Akteure um ihr Publikum warben, sie standen nicht unter dem Artenschutz der Hochkultur. Nach der Wiedervereinigung wurde die Sparte Pantomime preisgegeben. Burkhart Seidemann nahm das nicht widerstandlos hin. Der evangelische Theologe aus Jena gründete 1993 die Hackesche-Hof-Bühne, wo bald darauf das Jiddische Liedtheater in der Tradition des Berliner Scheunenviertels Wiederauferstehung feierte, was die Jüdische Gemeinde nicht ohne Argwohn zur Kenntnis nahm.

Das Publikum war begeistert, aber das Geld reichte nicht

Die Klezmer-Musiker hingegen nahmen die neue Spielstätte dankbar an. Über 170 Konzerte wurden im Jahr gespielt, es gab bis zu drei Aufführungen pro Tag, aber nur 100 Plätze. Puppentheater stand auf dem Programm, Hörspiele, Kindertheater, Literaturlesungen, Cabaret, Comedy und natürlich Pantomime, oder wie Burkhart es lieber formulierte: „mimisch-gestische Ensemble-Inszenierungen“, in denen ganze Epen wie der „Reineke Fuchs“ nahezu wortlos erzählt wurden. Das Publikum applaudierte begeistert, das Geld reichte dennoch nicht. Lob, so Seidemann, habe es immer genug gegeben, vom Bundestagspräsidenten wie von den Kultursenatoren, aber die öffentliche Förderung blieb aus.

"Ein Mensch, der sagt, er sei ein Meister, der ist am Ende"

Das Theater musste 2007 wegen steigender Mieten schließen, das Ensemble zerfiel. Kein Grund aufzugeben. „Vorwärts bitte und gegen den Wind.“ Burkhart Seidemann verdingte sich und andere bei Firmen-Festen und anderen Veranstaltungen, denn Kunst braucht Publikum, da war er sich für nichts zu schade. „Ein Mensch, der sagt, er sei ein Meister, der ist am Ende. Und ich möchte nicht am Ende sein. Von meiner persönlichen Einstellung bin ich lieber ein Clown, lieber ein künstlerischer Prolet.“

Er sah sich selbst nie am Ende des Weges, immer am Anfang. Sein Sohn half ihm dabei, sein Patensohn, Aurel, der Jüngste einer Roma-Familie aus Bukarest. Er hatte Aurel seinerzeit übers Taufbecken gehalten und ihm, wann immer das Kind die kleinen und großen Fragen des Lebens stellte, Geschichten erzählt, und schließlich auch aufgeschrieben. Geschichten, die vom Schicksal handeln, vom Mitleid, vom Glück, und von all den anderen Wundern, die Menschen so zustoßen können. Vorlese-Geschichten zum selber Nachdenken. Geschichten, die an Wunder glauben lassen und vor allem an die Liebe, nach der man sich einfach nur sehr, sehr stark sehnen muss, dann begegnet sie einem.

Er heiratete seinen Lebensgefährten im Beisein seines Patensohnes

„Gott hatte sich aus Mitleid mit den Menschen selbst erschaffen und hob die Kinder auf. Er wollte uns trösten. Gott war der Erste, der wusste, dass wir Menschen waren. So kam Gott auf die Welt.“ Dass er selbst die Welt verlassen musste, das kam Burkhart ziemlich ungelegen, denn er hätte gern noch ein oder zwei Jahrzehnte gelebt. Es wurden nur einige Monate, in denen er alles regelte, was zu regeln war. Er heiratete seinen Lebensgefährten im Beisein Aurels, er konnte sich kaum mehr bewegen, aber die Hand seines Mannes, die hat er gedrückt.

Von jedem Menschen erwartet das Leben etwas, das nur er allein ihm zurückgeben kann. So etwas wie Trost. Trost durch Geschichten. „Irgendwann war der Tod ihrer Trauer so müde geworden, dass er die Menschen mied und mehr und mehr aus den Augen verlor. Das ist sehr, sehr lange her. Ihr Klagen und Wehgeschrei hatten ihn zermürbt.“ Aber die Menschen, so spinnt Burkhart Seidemann seine philosophische Erzählung fort, wurden der vielen Zeit überdrüssig, sie baten ihn um Beistand, und der Tod willigte ein. „Gut, sagte der Tod, wenn ihr das glaubt, dann will ich euch wieder mitnehmen. Aber ihr müsst jeder etwas zurücklassen auf der Welt, dessen sich die Lebenden freuen können. Denn, das war seine Bedingung: Wegen ihm sollte niemand je wieder traurig sein.“

Feierlichkeiten, Grabstelle, Ehrung – all das hatte Burkhart verboten. Er ist zu Hause gestorben, lag zwei Tage aufgebahrt auf dem Sofa. Es wurde gegessen, getrunken und viel geweint. Aber es wird auch wieder gelacht werden. Denn in seinem Wohn- und Sterbezimmer wird ein kleines Theater eingerichtet, 20 Plätze, bald wird es losgehen, mit dem ersten Stück: „Phantom der Operette“.

Dieser Text erschien zunächst auf der Nachrufeseite des Tagesspiegels.

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