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Queere Jugendliche beim Berliner CSD.

© Paul Zinken/dpa

Studie zum Coming-Out: Fast 90 Prozent der queeren Jugendlichen werden online diskriminiert

Eine Studie zeigt: Queere Jugendliche erleben in der Freizeit oft noch Diskriminierungen. Das Internet ist für sie ein besonders ambivalenter Raum.

Das „Martyrium“ ging los, als Jennifer sich in ihrem Umfeld als lesbisch outete. Auf einmal war sie unsichtbar für die anderen, „Luft für die“, wie sie es beschreibt. Erleichterung brachte in dieser Zeit allein das Internet. Praktisch die ganze Zeit war sie online. In Jugendforen konnte sie sich mit anderen jungen Lesben austauschen: „Dadurch habe ich gelebt.“

Die Erfahrung der heute 23-Jährigen ist in einer neuen Studie des Deutschen Jugendinstituts zitiert. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben mehr als 1700 lesbische, schwule, bisexuelle, trans und genderdiverse Jugendliche und junge Erwachsene von 14 bis 27 Jahren befragt, wie sie ihre Freizeit gestalten und wie dabei ihr Umfeld auf ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise Geschlechtsidentität reagiert.

Das Internet ist Fixpunkt der Befragten

Das Internet ist dabei – im Guten wie im Schlechten – ein Fixpunkt für die Befragten. Tendenziell nutzen es queere Jugendliche noch intensiver als heterosexuelle, wie andere Studien bestätigen: Als Raum, in dem sie sich mit anderen queeren Jugendlichen vernetzen, oft erstmals überhaupt in Kontakt treten können. Andererseits ist es aber auch der Ort, wo sie Diskriminierungen besonders ausgesetzt sind.

Das Deutsche Jugendinstitut schließt mit der Umfrage an eine umfangreiche Coming-Out-Studie aus dem Jahr 2015 an. Der Tenor damals: Nach dem Coming Out müssen noch immer viele mit Ablehnung von Freunden und Familie rechnen. Der Befund bestätigt sich jetzt. Auch im Zeitalter der Ehe für alle und der Dritten Geschlechtsoption machen Jugendliche, die nicht heterosexuell sind oder sich nicht als cis-geschlechtlich identifizieren (deren Geschlecht also nicht mit dem übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde), zahlreiche Diskriminierungserfahrungen.

"Spannungsfeld Freizeit"

Genauso bietet gerade die Freizeit aber auch viel mehr als die Schule die Möglichkeit gezielt Schutzräume zu suchen: In denen sich Jugendliche selbstbestimmt bewegen können, wo sie mit Freundinnen und Freunden unterwegs sind, die sie akzeptieren. Von einem „Spannungsfeld“ sprechen die Autor*innen daher, in dem sich queere Jugendliche in ihrer Freizeit befinden: Während sie an vielen Stellen Inklusion erleben, werden sie gleichzeitig anderswo ausgegrenzt. Beispielhaft führt das die Studie an mehreren zentralen Orten der Freizeitgestaltung aus.

Beispiel Internet. Dieses ist aus dem Alltag von Jugendlichen „nicht mehr wegzudenken“, heißt es auch in dieser Umfrage – jede*r Befragte nutzt es. Drei Viertel der Befragten surfen zwischen zwei und fünf Stunden online, 20 Prozent sogar noch länger. Die Durchschnittszeit liegt im Vergleich mit den Ergebnissen anderer Jugendstudien etwas höher. Auch sind queere Jugendliche tendenziell aktiver auf Seiten unterwegs, die persönliches Engagement erfordern, wie in Internetforen oder Newsgroups.

Manche können online authentischer auftreten als im realen Leben

Das Internet biete die Chance, sich dem Thema LGBTI anzunähern, „ohne gleich jemand anderen informieren zu müssen“, heißt es. Im Netz lernen queere Jugendliche neue Leute kennen, die die eigenen Erfahrungen teilen. Jede*r Zweite hat einen Account auf queerspezifischen Plattformen wie Gorizi, einem Portal für junge Lesben, dem schwulen Portal dbna („du bist nicht allein“) oder dem FTM-Portal, das sich an junge trans Männer richtet.

Viele der Befragten würden „mit englischsprachigen Peers im Austausch stehen“, heißt es in der Studie, was in Bezug auf routinierte Englischfähigkeiten einen „Ressourcengewinn darstellt“. Insbesondere für trans und genderdiverse Jugendliche sei das Internet der Ort, „an dem sie viele positive Erfahrungen machen“. Insgesamt würden queere Heranwachsende im Internet „zum Teil authentischer auftreten, als ihnen das im realen Leben möglich ist“, resümieren die Autor*innen.

Trans Jugendliche sind häufiger Diskriminierungen ausgesetzt

Dennoch: Das Internet ist gleichzeitig der Freizeitbereich, an dem die Jugendlichen die meisten Diskriminierungserfahrungen erleben. Dass aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität online Witze über sie gemacht werden, haben 88 Prozent der Befragten mindestens einmal erlebt. Trans und genderdiverse Jugendliche sind insgesamt häufiger Diskriminierungen ausgesetzt: 46 Prozent von ihnen berichten, dass sie online beleidigt, beschimpft oder lächerlich gemacht wurden. Von den jungen Lesben, Schwulen und Bisexuellen sagen das 28 Prozent.

Beispiel Jugendzentren und Clubs.  Die Studie hebt die Bedeutung queerer Jugendzentren hervor; unlängst hat auch Berlin eines eingerichtet. Fast jede*r dritte Befragte besucht eine LGBTI-Jugendgruppe, manche nehmen dafür lange Anfahrtszeiten auf sich. „Sie treffen dort auf Gleichgesinnte, erleben Rollenmodelle, können über für sie relevante Themen sprechen, die sonst im Alltag nicht selbstverständlich und offen angesprochen werden können“, heißt es in der Studie. Viele würden sich später selber für die Gruppen ehrenamtlich engagieren, also zusätzliche soziale Kompetenzen erwerben.

Die Bedeutung queerer Jugendzentren zeigt sich gerade vor dem Hintergrund, dass sich LGBTI-Jugendliche an allgemeinen jugendkulturellen Orten wie in anderen Zentren, in Clubs, auf Partys oder in Cafés weniger wohl fühlen. Vom Internet abgesehen, erleben sie dort die meisten Diskriminierungen: Neun von zehn haben dort schon entsprechende negative Erfahrungen gemacht. Fast ein Drittel der lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen sind auf Partys sexuellen Belästigungen und Beleidigungen ausgesetzt, bei trans Jugendlichen sind das sogar 42 Prozent.

Umkleide als Angstraum

Beispiel Sport. Zwei Drittel sagen, dass sie in ihrer Freizeit Sport treiben: Die jüngeren tendenziell eher in Vereinen, die älteren bei kommerziellen Angeboten wie Fitnessstudios. Die Erfahrungen variieren stark. Junge Homo- und Bisexuelle nehmen den Sport deutlich inklusiver als etwa die Schule oder Clubs und Discos wahr, vor allem wenn sie ihn außerhalb eines Vereins mit Freunden ausüben. Trans Jugendliche machen deutlich negativerer Erfahrungen. Das liege vor allem daran, dass gerade im Sport die heteronormative Zwei-Geschlechter-Ordnung besonders wirksam ist, man sich in den meisten Sportarten Männern oder Frauen zuordnen muss, Umkleiden eine Art Angstraum sind.

Die Studie empfiehlt hier insbesondere Vereinen, die nicht auf einen Wettkampfbetrieb ausgerichtet sind, mehr auf Diversität zu setzen. Auch müssten Trainerinnen und Trainer stärker sensibilisiert werden, um im Zweifelsfall eingreifen zu können. Denn Diskriminierungen gehen meistens von den Teamkolleginnen und -kollegen aus.

Wenn ein öffentlicher Kuss nicht alltäglich ist

Ein weiteres auffälliges Ergebnis der Umfrage: Im öffentliche Raum fühlen sich die meisten Befragten unsicher, beschreiben „grundsätzlich ein Gefühl der Angst“, wie es in der Studie heißt. 84 Prozent haben Diskriminierungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung erlebt, 94 Prozent aufgrund ihrer Geschlechtsidentität. Dazu gehören abfällige Witze, Beleidigungen und Belästigungen – und das Gefühl, häufig angestarrt oder beobachtet zu werden.

„Alltäglich Situationen, über die heterosexuelle Menschen meist nicht nachdenken müssen, wie als Paar in der Öffentlichkeit Hand in Hand zu laufen, sich zu küssen“, seien für queere Jugendliche daher „nach wie vor weder selbstverständlich noch unproblematisch beziehungsweise ungefährlich“.

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