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Magnus Hirschfeld (rechts) war Arzt und richtete in Berlin 1919 das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft ein. Hier ist er mit einem Mitarbeiter zu sehen.

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Zum 150. Geburtstag des Sexualforschers: Magnus Hirschfeld, Vordenker und Vorkämpfer

Vor 150 Jahren wurde Magnus Hirschfeld geboren. Er begründete die moderne Sexualforschung und Homosexuellenbewegung - auch wenn manche seiner Theorien heute umstritten sind.

In Charlottenburg, gegenüber dem Rathaus, liegt neben einem Nagelstudio der Geburtsort der modernen Homosexuellenbewegung – und der modernen Sexualwissenschaft. Hier trafen sich 1897 der Mediziner Magnus Hirschfeld und drei Mitstreiter, um das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ zu gründen. Es war eine bahnbrechende Vereinigung: Als weltweit erste setzte sie sich zum Ziel, die Verfolgung Homosexueller zu bekämpfen und abzuschaffen. Hirschfeld, geboren in Kolberg, studiert in Straßburg, München, Heidelberg und Berlin, war der Kopf des Komitees – und die treibende Kraft dahinter.

Das Komitee fing bescheiden an. Es veröffentliche Jahrbücher, Pamphlete und Zeitschriften. Das „Jahrbuch für Sexuelle Zwischenstufen“ etwa, die Schrift „Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen“ oder „Die Transvestiten: Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb“. Was heute teils seltsam und falsch klingt, war die erste wissenschaftliche Annäherung an ein Phänomen, das zuvor höchstens in der Kirche besprochen wurde – unter Sodomie und mit dem Zusatz, dass Gott und Glaube einen davor bewahren könne.

Hirschfeld verteilte Hefte in Zügen, Kneipen, Restaurants

In seinen Pamphleten richtete sich Hirschfeld direkt an Eltern: Auch ihre Kinder könnten homosexuell sein. Er listete bekannte Homosexuelle auf, Sokrates, Michelangelo, Friedrich den Großen. Als Erster argumentierte Hirschfeld, dass Homosexualität angeboren ist. Daraus entwickelte er später einen manchmal fragwürdigen, allumfassenden Biologismus, mit dem er Kultur, Neigung, sogar Politik zu erklären versuchte und der sich nah an Sozialdarwinismus und Eugenik bewegte.

Um möglichst viele Menschen zu erreichen, verteilte Hirschfeld seine Hefte in Kneipen, Restaurants, ließ sie auf Zugsitzen liegen und warf sie bei Versammlungen in die Menge. In den nächsten 30 Jahren fand er so viele Verbündete, dass sich deren Liste heute wie ein Glossar der wichtigsten Namen deutscher Kultur, Medizin und Wissenschaft liest: Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann gehörte dazu, der Künstler Max Liebermann und der Gründer der Sozialdemokratie, August Bebel. Hirschfeld machte Kulturarbeit, Wissenschaft und Vermittlung in einem; er forschte, warb und lobbyierte.

Viele Allianzen ging er dafür ein, wie mit Helene Stöcker, der führenden Figur der aufkommenden Frauenbewegung. Auch zweifelhafte Zeitgenossen waren darunter. Adolf Brand etwa hatte das erste Schwulenmagazin der Welt gegründet, setzte sich aber auch für Päderastie ein und sympathisierte mit nationalsozialistischer Ästhetik und Ideengut. Die Hauptsache war immer das gemeinsame Ziel: den Paragrafen 175 abzuschaffen, jenes Gesetz, das Homosexualität schon im Kaiserreich unter Strafe stellte.

Das Leben von Hirschfeld und das des Paragrafen 175 überschnitten sich. Es ist wohl das Traurigste an der Geschichte, dass Hirschfeld in seiner Lebenszeit nur mitbekam, wie es schlimmer wurde. Als 1872 der Paragraf 175 ins Reichsstrafgesetz eingeführt wurde, war Hirschfeld noch ein dreijähriger Arztsohn aus Kolberg. Erstmals wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg versucht, den Paragrafen zu streichen. Schon da war Hirschfeld einer der lautesten Kritiker des Gesetzes.

Die Weltwirtschaftskrise verhinderte eine Abstimmung über den Paragrafen 175

Als die Abschaffung des Paragrafen 1929 im Reichstag beschlussfähig vorlag, war Hirschfeld bereits der berühmteste Sexualwissenschaftler der Welt. Die Weltwirtschaftskrise aber verhinderte die Abstimmung. Sie wurde vertagt und nicht wieder angesetzt – und als die Krise endlich vorbei war, waren die Nationalsozialisten schon an der Macht. 1935 verschärften sie den Paragrafen weiter. Hirschfeld war da bereits ins Exil geflohen. Es musste ihm vorgekommen sein, als wäre seine Arbeit der vergangenen Jahrzehnte an den Anfang zurückgedreht worden, als hätten er und seine Mitstreiter nie existiert.

Dabei hatte es in den Jahren seines Berliner Wirkens kurz danach ausgesehen, dass alles anders kommen könnte. Hirschfeld und seine Kollegen machten die Stadt zum Zentrum homosexuellen Lebens in der Welt. Auf die ersten Schwulenzeitschrift „Der Eigene“ folgte die erste Lesbenzeitschrift „Die Freundin“. Bis 1919 entstanden 30 verschiedene Magazine für homosexuelles Publikum in Berlin, während es weltweit nur noch zwei weitere gab, in Paris und Chicago. Bruno Balz und Erwin Neuber dichteten den Schlager „Bubi, lass uns Freunde sein“ für die erste Schallplatte, auf der Lieder homosexuelle Themen behandelten. Für „Anders als die Anderen“, den ersten Kinofilm, der jemals Homosexualität thematisierte, schrieb Magnus Hirschfeld persönlich das Drehbuch.

Es war dieser kulturelle Teil von Hirschfelds Arbeit, von dem seine politische Macht ausging. Doch noch viel nachhaltiger war der Einfluss der von ihm begründeten Sexualwissenschaft.

1919 erfüllte sich Hirschfeld seinen wissenschaftlichen Traum, das Institut für Sexualwissenschaft. In einem alten herrschaftlichen Gebäude im Tiergarten, dort, wo heute das Haus der Kulturen der Welt steht, errichtete er die erste wissenschaftliche Einrichtung für Sexologie. Er baute die größte sexualwissenschaftliche Bibliothek der Welt auf. Internationale Wissenschaftler begannen, dafür nach Berlin zu reisen. Erkenntnisse, die damals hier erarbeitet wurden, gelten teilweise bis heute noch als Grundlagen der Sexualwissenschaft. „Die deutsche Sexualwissenschaft war zu Hirschfelds Zeit weltweit tonangebend“, sagt Volkmar Sigusch, heute einer der einflussreichsten Sexualwissenschaftler.

Die erste geschlechtsangleichende Operation an Lili Elbe

Hirschfeld schrieb Medizingeschichte, als er zusammen mit dem Arzt Ludwig Levy-Lenz die erste geschlechtsangleichende Operation an der Dänin Lili Elbe vornahm. Er arbeitete aber auch mit der Berliner Bevölkerung. Patienten, Interessierte und Skeptiker, homosexuell oder nicht, konnten zu offenen Fragestunden kommen. Laut Hirschfeld wurden allein 14 000 Fragen anonym eingesandt worden. Er bot Sexualberatung an, für Homosexuelle, aber auch für heterosexuelle Paare mit Eheproblemen.

Der Leitsatz „Durch Wissenschaft zu Gerechtigkeit“ wurde sein Antrieb. Seine biologistische Sicht auf Mensch und Homosexualität vertiefte sich aber. Das ist einer der Gründe, warum es heute wenig Texte und Reden über ihn gibt, in denen nicht das Wort „umstritten“ vorkommt. Hirschfeld transplantierte schwulen Männern die Hoden heterosexueller Männer ein, um ihre Homosexualität zu überschreiben.

Homosexuelle verortete er auf einem Gradienten zwischen „Vollweib“ und „Vollmann“, als „Zwischenstufe“, also in gewissem Maße als inkomplette Wesen. Er gründete eine „Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik“. Hirschfeld, ein schwuler, jüdischer Sozialist, warb damit für „sexuelle Selektion“, um die „geistige Tüchtigkeit der Nachkommenschaft“. zu verbessern. Er war so gleichzeitig ganz weit entfernt und ganz auf Linie der Nationalsozialisten.

Die Nazis hetzten gegen Hirschfeld und sein Institut

Den Nazis blieb der Erfolg und der Einfluss des Instituts nicht verborgen. Erst drangsalierten sie dessen Besucher und hängten diffamierende Plakate auf. Später, nach dem Wahlsieg der NSDAP, wurde offen gegen Hirschfeld gehetzt. Am 6. Mai 1933 schließlich marschierten rund hundert Sportstudenten vor dem Institut auf. Sie plünderten die Bibliothek und verbrannten unter „Sieg Heil“-Rufen die im Institut gesammelte sexualwissenschaftliche Literatur auf dem Opernplatz.

Hirschfeld war zuvor gewarnt worden, er hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Exil in Nizza auf. Er kam nie wieder nach Deutschland. Am Tag seines 67. Geburtstages, am 14. Mai 1935, starb er bei einem Spaziergang in seinem Garten.

An diesem Montag jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal (und sein Todestag zum 83.), begleitet von einem großen Festakt in Berlin, Symposien und Lesungen. Was für ein Wandel im Vergleich zu seinem 100. Geburtstag, als seiner noch kaum gedacht wurde. Hirschfeld ist einer dieser Namen, die der Wissenschaft zwar durchgehend bekannt waren, die aber erst mit einer Zunahme an gesellschaftlichem Interesse wirklich wahrgenommen wurden. Mittlerweile tragen eine Bundesstiftung und eine Gesellschaft seinen Namen und kümmern sich auch um sein Vermächtnis.

Selbst Hollywood entdeckte ihn

In der Otto-Suhr-Allee steht eine Büste mit seinem Konterfei. Es sind populärwissenschaftliche Bücher über ihn und seinen Einfluss erschienen („Gay Berlin“), einige seiner Bücher wurden wiederaufgelegt („Weltreise eines Sexualforschers“). Selbst Hollywood entdeckte ihn und dramatisierte die Geschichte seiner Patientin Lili Elbe in „The Danish Girl“.

Hirschfelds Selbstdarstellungsepisoden, der Sozialdarwinismus und der Biologismus mögen heute irritieren. Doch an seinen historischen Verdiensten ändert das nichts: Er ist bis heute eine zentrale Figur für die Sexualwissenschaften, die Genderforschung und die Homosexuellenbewegung.

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