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Berlin: Rahel Bontjes van Beek, geb. 1907

Nichts ist geblieben. Die Häuser nicht, die um den Baum herum standen, und auch nicht die Straßen, die zu ihm führten.

Nichts ist geblieben. Die Häuser nicht, die um den Baum herum standen, und auch nicht die Straßen, die zu ihm führten. Nur der Baum steht noch da. Täglich ziehen die Menschen an ihm vorüber, strömen in Scharen zum Potsdamer Platz. Die alte Platane beachtet kaum jemand. Für Rahel Bontjes van Beek hatte sie eine besondere Bedeutung. Sie war ein Relikt ihrer Kindheit, das einzige Überbleibsel einer fernen, untergegangenen Welt, aus der sie früh ins eigene, von Umbrüchen gezeichnete Leben hinausgetreten war.

Als Rahel ein Mädchen war, schmückte der Baum die Mitte eines kleinen Platzes. Dort, wo heute die Philharmonie steht, stand ihr Elternhaus. Es war ein stattliches Haus mit vier Etagen, die von der Mutter und acht Bediensteten bewirtschaftet wurden. Der Vater, ein wohlhabender Kunsthistoriker, hatte das Haus mit erlesenen Kunstgegenständen gefüllt. An den Wänden hingen Gemälde, von Max Liebermann zum Beispiel; und auch ein Manet war dabei.

Es hätte eine glückliche Kindheit sein können, mit einer warmherzigen Mutter und einem kunstsinnigen Vater. Weil der Vater seine Tochter aber zu schön und zu anmutig fand, um sie der Gesellschaft Gleichaltriger preiszugeben, ließ er ihr bis zum zwölften Lebensjahr Privatunterricht erteilen. Rahel hat diese Isolation nie vergessen. Zudem litt sie unter der Sprachlosigkeit, die daheim herrschte. Der ehrgeizige Vater und die ganz auf das Haus beschränkte Mutter verstanden sich nicht. Als der Vater die Mutter verließ, war Rahel 13. Sie führte Tagebuch, in Spiegelschrift, damit es niemand lesen konnte. Noch im Alter erzählte sie, dass sie damals nur im Schreiben Erleichterung fand.

Alles wollte sie werden, nur nicht so unselbstständig wie ihre Mutter. Rahel wurde eine moderne junge Frau, fast zu modern für ihre Zeit. 1925 begann sie die Tischlerei zu erlernen, belegte Abendkurse in Technischem Zeichnen. Nachdem sie in der Schweiz ihre Gesellinnenprüfung abgelegt hatte - in Deutschland war das für eine Frau nicht möglich - holte sie Erich Mendelsohn, der berühmte Architekt, der gerade das Universum Kino am Lehniner Platz, die heutige Schaubühne, gebaut hatte, in sein Büro. Rahel zeichnete, entwarf Möbel und Inneneinrichtungen. Sie war glücklich, eine glänzende Laufbahn begann. Doch 1935 wurde ihr die Ausübung des Berufes untersagt. Die Nazis erklärten Rahel zur "Halbjüdin". Rahel widmete sich fortan der Karriere ihres Mannes. Jan Bontjes van Beek, den sie 1933 geheiratet hatte, war ein erfolgreicher Keramiker. Gerade hatte er am Tegeler Weg eine eigene Werkstatt eingerichtet, wo auch viele andere Künstler ihre Keramiken brannten. Bildhauer waren darunter, solche, die offiziell geächtet waren, und solche, die das Regime unterstützten. Arno Breker zum Beispiel, Hitlers Liebingsbildhauer. Von Breker besaß Rahel bis zum Schluss einen wunderbaren, sensiblen Porträtkopf aus den 20er Jahren, aus einer Zeit, als der Bildhauer noch nicht von der Macht korrumpiert war. Wenn sie den Kopf ansah, sah sie immer nur die künstlerische Qualität, nicht die spätere politische Verwirrung seines Urhebers. Dazu gehörte Größe, denn die Nazis hatten ihr und ihrem Mann viel Leid angetan.

Am schlimmsten war die Ermordung von Cato, der Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes. Cato gehörte zur Widerstandsgruppe "Rote Kapelle". 1942 nahmen die Nazis zunächst Rahels Mutter fest, dann folgten ihr Mann und die Stieftochter. Mutter und Ehemann kamen wieder frei. Cato aber wurde im August 1943 in Plötzensee hingerichtet. Wenig später brannte die von Bomben getroffene Keramikwerkstatt nieder.

Rahels Lebenswille aber war nicht gebrochen. Vielleicht war es ihren vier Kindern zu verdanken, dass sie noch einmal die Kraft zu einem Neuanfang fand. Zu Kindern, nicht nur zu ihren, hatte sie immer eine besonders enge Beziehung. Vielleicht, weil sie sich noch gut an die Nöte ihrer eigenen Kindheit erinnerte. Rahel nahm die Gefühle der Kinder ernst. Als ihre Kinder ein eigenes Leben zu führen begannen, arbeitete sie mehrere Jahre in einer Kindergruppe in Kreuzberg.

Das einzige, was ihr in den letzten Jahren ihres Lebens zu schaffen machte, war der langsame Verlust des Augenlichts. Die Augenschwäche war ein Erbe ihres Vaters, von dem sie seit der Trennung der Eltern nie wieder gehört hatte.

Die großbürgerliche Welt, der sie entstammte, war längst versunken. Nur die Platane, die vor ihrem Haus gestanden hatte, war geblieben. Als sie jetzt mit 93 Jahren starb, war sie nicht allein. Sie starb in den Armen ihrer jüngsten Tochter. Wie jeden Tag war sie gekommen, um nach ihr zu schauen. Rahel wusste, dass ihre Kinder sie nicht verlassen würden.

Markus Krause

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