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Berlin: Rainer Schultz (Geb. 1950)

„Frag mal Schultz“, sagt man im Kiez, „der hat das“

Von Julia Prosinger

Frag mal Schultz, sagte man im Kiez, der weiß das. Man muss nur ein paar Treppen hinabsteigen, in seinen Keller, einen ehemaligen Heizungsraum, vorbei an langen Regalen, an Kisten voller Schrauben, an Säcken voll Streusand, an Ecken voller Besenstiele. Da sitzt er dann auf einem alten Ledersofa zwischen bunten Kissen, umgeben von Alben und Ordnern, alten Stadtplänen, einen Stapel Schwarz-Weiß-Fotografien zu seinen Füßen. Eine Mütze auf der Glatze oder irgendeinen Hut, bei Festen im Stadtteil trägt er Zylinder zum Frack, und wenn er krank ist, Pudelmütze im Bett.

Frag mal Schultz, der weiß das.

Was lief im ehemaligen Kino an der Ecke Rüdesheimer/Aßmannshauser Straße? Schultz holt den Spielplan 1949 / 1950 aus einem seiner Ordner. Zeitungsausschnitte fallen zu Boden über die U-Bahn-Station Rüdesheimer Platz, den Abschied der Alliierten aus Berlin, den Marathon, Postkarten quellen heraus, Ballonstart 1908, Meisterschaft im Rollschuhlaufen. Warum gründeten Hauseigentümer im Berliner Rheingau- Viertel 1921 eine Gärtnerei? Um die Grünflächen zu erhalten. Worüber stritten sich die Mieter im Eckhaus Ende der zwanziger Jahre?

Schultz weiß das. Woher? Rainer Schultz war Hausmeister in den Straßen um den Rüdesheimer Platz. Seit 1978 sammelte er Stadtteilgeschichte, war Mitglied im Quartierverein „Rüdi-Net“, zog mit seinen Fundstücken auf den Sommerfesten Neugierige an.

Seine Bildunterschriften waren nicht leicht zu entziffern, die Ordner hätte man neu sortieren können. Er war ja ein Amateurchronist. Hatte auch nicht studiert wie sein Bruder.

Geboren wurde Rainer Schultz in Schmargendorf, er wuchs in Lichterfelde und Mariendorf auf, die Eltern hatten vier Kinder und wenig Geld, ab Monatsmitte mussten sie beim Kaufmann anschreiben.

Rainer Schultz war ein Kleinkind, als sich seine Hirnhaut entzündete. Er besuchte die Hauptschule, wurde Einzelhandelskaufmann, übernahm eine Schöneberger Zoohandlung vom Großonkel. Er griff ungern Vögel aus der Voliere oder Fische aus dem Aquarium. Aber der Vater sah den Laden als sichere Zukunft für einen Sohn wie Rainer, und Rainer mochte den Vater. Darum mochte er auch die Geschichte, darum mochte er Deutschland, vielleicht auch darum den Alkohol, bestimmt aber das Militär, wo der Vater Funker und dann auch Offizier war. Rainer Schultz ging darum drei Jahre freiwillig zur Bundeswehr.

Als der Vater stirbt, will Rainer Schultz unbedingt dessen Ritterkreuz erben, in seinem Keller stehen Offiziershelme, deutsche, amerikanische. Nicht selten klingen seine Bitten wie Kommandos: „Bring mal hier den Meißel her, den kleineren, drittes Regal, untere Kiste“, ruft er seinen Freunden zu, wenn es ihm nicht gut genug geht, um selbst zu laufen.

Liegt er wegen seiner Leber mal wieder im Krankenhaus, berichten die Nachbarn, was sich im Viertel ereignet hat. Wo ein Stück Fassade heruntergebrochen und wann die Polizei eingetroffen ist.

„Frag mal Schultz“, sagt man im Kiez, „der hat das.“ Ersatzteile für alte Fahrräder, eine zweite Abdeckplane, wenn der Wind das Sommerfest verweht, eine zusammenklappbare Sackkarre. Man kann ja auch mal etwas reparieren, anstatt es neu zu kaufen.

Das Denkmalamt bittet Schultz um Hilfe, als es den linken Arm des steinernen Brunnen-Siegfried auf dem Rüdesheimer Platz restauriert. Die Polizei fragt ihn nach Fotos einer Hausfrau, die zur Polizistin ausgebildet wurde, und als der Tagesspiegel die Leser zu seinem Jubiläum aufruft, Bilder zu schicken, sind 19 von Rainer Schultz.

Schultz studiert eben doch, auf seine Art. Er verbringt Nachmittage in Bibliotheken, auf dem Denkmalamt, bei der Feuerwehr: „Da war doch mal ein Brand im Viertel, haben Sie Unterlagen?“ Er verbringt Abende bei den Nachbarn, während daheim bei seiner Frau und seinen zwei Söhnen das Abendessen kalt wird.

„Kann ich mal zu Ihnen kommen?“, fragt er, wenn jemand, den er noch nie zuvor getroffen hat, von Möbeln aus der Bauhauszeit erzählt. „Ihr habt doch einen Computer, kann ich da was suchen? Kann ich bei euch was kopieren?“ Er bekommt von den Leuten alte Mietverträge, Plakate von Litfaßsäulen. Ein Familienstammbuch findet er in der Mülltonne.

Im Oktober 2013 verleiht ihm das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf die Bürgermedaille. Rainer Schultz freut sich, wie damals, als er von seinem Vater gelobt wurde. Julia Prosinger

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