zum Hauptinhalt
Rainer Werner Fassbinder beim Dreh.

© DPA

Rainer Werner Fassbinder: Muss man den kennen?

Er trieb seine Schauspieler in den Wahnsinn, kokste bis zum frühen Tod und galt als „Messias des Neuen Deutschen Films“. In den 70ern war Rainer Werner Fassbinder ein Hipster - im Gedächtnis bis heute.

Wenn man sich Fotos von Fassbinder ansieht, sucht man eher eine Aldi-Tüte in seiner Hand als einen Filmpreis. Er sieht aus, als würde er nach Werkstatt und Schweiß riechen – wie einer der wichtigsten Vertreter des neuen deutschen Films wirkt er nicht. Der trübe Blick in seinem aufgedunsenen Lederjackengesicht, der Schnauzbart.

Berlin wollte ihn nicht

Rainer Werner Fassbinder wurde in dem Jahr geboren, in dem Hitler starb. Nachdem sich seine Eltern trennten, wuchs er bei seiner Mutter in Augsburg auf. Mit 16 brach er die Schule ab und zog zu seinem Vater nach Köln. An der deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin wurde er abgelehnt.

Er gründete die Schauspielgruppe „antitheater“. Das Wort ist so retro, dass man heute ohne  Probleme eine Off-Bühne so nennen könnte. Fassbinder machte, bevor er mit 37 Jahren an einer Überdosis Kokain starb, über 40 Filme und trat in vielen auch als Schauspieler auf. „Er dreht Filme wie andere Zigaretten“ schrieb damals Der Spiegel. „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, sagte er. Die New York Times nannte ihn „The Messiah of the New German Film“.

Kein Regisseur für schwache Nerven

Er soll die Art Regisseur gewesen sein, bei dem die Schauspieler während der Dreharbeiten geweint haben, weil er sie in den Wahnsinn getrieben hat. Wenn er Drehbücher schrieb, hat er sich stunden-, manchmal tagelang in seinem Zimmer eingeschlossen, gekokst und ins Aufnahmegerät gesprochen. Seine Mutter hat das dann abgetippt. Was für ein Irrer.

Einer seiner bekanntesten Filme erschien 1974: „Angst essen Seele auf“. Es geht um eine alte Frau, die sich in einen jungen marokkanischen Gastarbeiter verliebt. Der Film macht einen fertig. Warum?

Es regnet. Eine ältere Frau rettet sich auf dem Heimweg in eine Kneipe. Sie heißt Emmi. Alle glotzen sie an. Normalerweise sitzen hier nur Gastarbeiter und trinken Bier. Es läuft orientalische Musik. Eine blonde Tussi fragt, was Emmi trinken möchte. „Was gibt es denn?“ - „Cola? Bier?“ - „Gut, ein Cola bitte“. Die Leute glotzen weiter. Sie passt hier nicht hin. An der Bar steht Ali. Eigentlich heißt er El Hedi ben Salem m’Barek Mohammed Mustafa, aber alle nennen ihn Ali. Also nennt er sich auch so. Seine Kollegen fragen ihn, ob er nicht mit der alten Dame tanzen will. Ali will. Das Licht wird gedimmt. Er zahlt die Cola und begleitet sie nach Hause – nicht, dass ihr etwas passiert. Er regnet. Sie retten sich in ihren Hausflur. Sie unterhalten sich, beide sind einsam. Oben noch einen Cognac? Im Treppenhaus glotzen die Nachbarinnen den beiden nach. „Ein Neger, aber nicht ganz schwarz“, sagt eine. „Was der wohl will? Einen Teppich verkaufen?“ Sie lachen. Ali bleibt über Nacht und zieht einen Schlafanzug von Emmis Mann an. „Mein Mann ist tot, schon lange.“ Ali kann nicht schlafen, geht in ihr Zimmer und streichelt ihren Arm. Der junge Marokkaner und die alte Emmi heiraten. 70er Jahre in München. Eine Zeit, in der ein Kioskverkäufer sagte: „Lern erstmal richtig Deutsch, sonst verkaufe ich dir nichts“. Oder Hausfrauen tuschelten: „Dreckige Schweine, nur Huren lassen sich mit denen ein.“ Emmis Sohn zertritt den Fernseher, als sie ihm ihren neuen Mann vorstellt. Alle glotzen sie an. Wie absurd, dass jemand seinen Träumen nachgeht.

Der Film macht einen fertig, weil wenig passiert. Dadurch, dass er sich auf einen Konflikt beschränkt, an die Gesichter zoomt, lange Einstellungen hat, wirkt er unheimlich intensiv. Man sieht Alis Penis und die Brüste der Barfrau. Aber nicht explizit, sondern nebenbei. Ali verhaspelt sich manchmal beim Reden, wie im echten Leben. Kaum ein Satz geht gerade raus. Als eine Spannung zwischen den beiden eintritt und er vom Frühstückstisch  aufsteht, die Wohnung verlässt, ohne ein Wort zu sagen, wirkt das heftiger, als wenn zwei sich anschreien.

Heute schwer vermisst

Fassbinders Filme versuchen nicht, erklärerisch zu sein. Sie sind brutal ehrlich. Männer schlagen Frauen. „Der Zuschauer soll rebellieren“, sagt Fassbinder. Seine Filme fordern den Zuschauer auf, etwas zu entdecken, aber die Erkenntnisse liegen nicht auf dem Servierteller.

Rainer Werner Fassbinder. Er ist heute immer noch eine coole Sau. Mit seinem frühen Tod bleibt er als junger Mann im Gedächtnis, in alt kann man ihn sich nicht vorstellen. Wie cool muss er bitte damals gewesen sein? In einer Ausstellung im Martin-Gropius-Bau kann man sich die Tonbänder von damals mit modernen Kopfhörern anhören. Aber es gibt auch Sachen von früher, zum Beispiel das Rennrad, die Schreibmaschine, einen Flipper, die Lederjacken und Skizzenbücher. Manche haben Brandlöcher. Der alte Quarzer.

Fassbinder ist der der Querkopf, der Anarchist, die Persönlichkeit, die man heute so schrecklich vermisst. Heutige Filme wirken gegen seine charakterlos. Warum gibt es kaum Filme über aktuelle Probleme? Über Leute, die sagen: „Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber…“ Oder Leute, die so tun, als wären sie mega beschäftigt und beliebt, dabei sind sie innerlich leer.

Mit 37 Jahren war Fassbinder tot. Er sah deutlich älter aus.

Die Ausstellung „Fassbinder – JETZT“ noch bis zum 23. August im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin, Mittwoch bis Montag von 10.00 bis 19.00 Uhr, Eintritt 9,00 Euro/ erm. 6,50 Euro.

Gefällt dir? Das ist ein Beitrag von unserem Jugendblog "Der Schreiberling". Werdet unsere Freunde auf www.facebook.de/Schreiberlingberlin oder folgt uns auf www.twitter.com/schreiberling.

Simon Grothe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false