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Tanzen im Haubentaucher.

© Kai-Uwe Heinrich

RAW-Gelände in Friedrichshain: Die Berliner Nacht hat ihre Freiheit verloren

Er hat sich zu jeder Zeit sicher gefühlt Berlin, schreibt unser Gastautor vom digitalen Stadtmagazin "Mit Vergnügen". Seit dem vergangenen Wochenende ist das anders. Ein Gastkommentar

Der Hals eines bärtigen Mannes. Darüber zieht sich eine lange Schnittwunde, die frisch genäht ist. Lila Fäden kleben zwischen Pflaster und dem blutverschmierten Hals. In der Nacht von Samstag zu Sonntag wurde ein 26-Jähriger in Berlin brutal überfallen. Die Wunde auf seinem Hals stammt von einem spitzen Gegenstand – vermutlich einem Messer. Seine Freundin Jennifer schreibt auf Facebook: "Es fehlten nur ein paar Millimeter und er wäre direkt auf der Straße in meinen Armen gestorben." Sie hat das Foto von dem Hals hochgeladen, sie hat beschrieben, was ihrem Freund in dieser Nacht passiert ist. Sie war dabei.

Dieses Foto wurde in den ersten 24 Stunden seit Veröffentlichung über 61.000 Mal geteilt. Die Kommentare unter dem Foto überschlagen sich. Einige sind erschrocken, ähnliche Erlebnisse werden geteilt, aber vor allem wird gemutmaßt, woher die Täter kommen. Man brauche sich doch nicht wundern, dass so etwas passiere, bei den ganzen Ausländern in der Stadt. Oder: "Da hilft nur immer einer geladene Waffe dabei zu haben." Einer fragt, was ist das für eine Welt ist, in der wir leben, und 11.000 liken diesen Satz.

Für mich spielt es keine Rolle, woher diese Gang stammt, ob sie aus Trier oder Timbuktu kommt, und es spielt auch keine Rolle, ob es skrupellose Gangster oder mittellose Kids sind. Diese Tat demonstriert auf eine brutale und eindeutige Art einen Wendepunkt: Die Berliner Nacht hat ihre Freiheit verloren.

Seit Anfang der 90er Jahre galt diese, unsere Nacht als undurchdringlicher Schutzraum, der für alle Platz bietet und in dem wirklich alles erlaubt ist. In leerstehenden Häusern wurden Bassboxen aufgestellt, provisorische Bars gebaut und wild gefeiert. Der Stromverteiler lag in der Bierlache, von der Decke tropfte es ins DJ-Pult. Wenn die Sicherung ausfiel, wurde eben im Dunkeln ohne Musik weitergetanzt. Die Nachbarn haben keine Polizei gerufen, denn sie standen selbst auf der Tanzfläche. Es wurde ungeschützt gefummelt, geschnieft und sich vergessen. Über Fluchtwege, Finanzämter und Türpolitik hat sich keiner Gedanken gemacht.

Ich hatte beim Ausgehen immer das Gefühl, dass alle nur ein bisschen spielen wollen und nicht selten beobachtet, wie Menschen betrunken aus dem Club gewankt sind und sich auf die nächste Bank oder Wiese schlafen gelegt haben. Mit Eröffnung des Berghains 2004 hat dieser Schutzraum einen zentralen Tempel bekommen. Unser ehemaliger Bürgermeister hat selbst dort gefeiert und nach ihm kamen tausende Kids aus Spanien, England und Frankreich, um dort ebenfalls Unterschlupf in der Unvernunft zu finden. Nicht wenige haben nie den Weg zurück nach Hause gefunden. Zur Fußball-WM 2006 sind wir dann einmal alle gemeinsam von Club zu Club gezogen.

Danach wurden die Schlangen vor den Clubs immer länger, die Türpolitik immer härter – bis wir selbst nicht mehr in unsere Schutzräume reingekommen sind.

Unser Spielzimmer ist zu einer Art Kriegsschauplatz geworden

Jennifer und ihr Freund waren am Samstag auf dem RAW-Gelände feiern. Dort stehen viele Läden, in die man selbst mit ausgelatschten Sneakern und ohne weibliche Begleitung reinkommt. Das Astra, Cassiopeia, Urban Spree, die Neue Heimat. Das Gelände selbst teilen sich zwei Investoren, die keine Eigenheime und Shopping-Center bauen dürfen, weil sich die Grünen dagegen ausgesprochen haben. Wie lange die allerdings noch die schützende Hand über das RAW halten werden, ist fraglich. Bis dahin haben die Investoren nichts dagegen, wenn das Gelände durch Kultur belebt wird und dadurch eine Wertsteigerung erfährt. Den neuen Badeclub Haubentaucher darf man vermutlich als Vorboten eines Demografiewandels auf dem Gelände begreifen. Vor einigen Wochen wurde ein Badegast, der Rapper Volkan Türeli, mit der Begründung, er sei ein Kanake, nicht zu seiner Familie gelassen, die bereits im Bad war.

In den nächsten Wochen und Monaten wird sich die Atmosphäre auf dem RAW und an anderen Nachtorten ändern. Der Alexanderplatz galt vor Jahren noch als Versammlungsort vieler obdachloser Jugendlicher. Nach dem Überfall auf Johnny K. 2012 wurde die Polizeipräsenz verstärkt. Ständiges Kontrollieren der Personalien hat dafür gesorgt, dass die Jugendlichen verschwanden und damit aus der Beobachtung und Hilfestellung für Sozialarbeiter fielen. Uns hat das berührt, aber nicht betroffen, da der Alexanderplatz nicht zu unserem Schutzraum zählte. Aber nun wurde auf dem RAW-Gelände das Polizeiaufkommen verstärkt. Die schlechte Beleuchtung des Geländes bereits in mehren Berichten zu den Überfällen thematisiert, vielleicht überlegt man sich auch, ähnlich wie in London, die Feierenden demnächst mit Kameras zu schützen.

Matze Hielscher von "Mit Vergnügen".
Matze Hielscher von "Mit Vergnügen".

© Mit Vergnügen

Die Berliner Nacht hatte uns das Versprechen gegeben, dass wir uns in ihr verlieren können, sie hat uns das Gefühl gegeben, dass wir in ihrer Dunkelheit sicher sind, ein riesiges Spielzimmer, durch das wir unbeschwert mit dem Fahrrad gefahren sind und "Schwarz zu Blau" von Peter Fox gehört haben. Unser Spielzimmer ist zu einer Art Kriegsschauplatz geworden. Wir werden nicht mehr in die Clubs gelassen, wenn wir die Codes nicht erfüllen, unser Spieltrieb wird zur Spekulationsware und nach dem Überfall am Samstag fühlen wir uns nicht mehr sicher.

Keiner der 61.000 Menschen, die den Beitrag von Jennifer geteilt haben, wird in den nächsten Wochen unbeschwert bei Dunkelheit das RAW-Gelände betreten, vermutlich werden viele einen Bogen um diese Gegend machen – auch ich. Dieses Gefühl hatte ich noch nie in dieser Stadt. Nicht im Görlitzer Park, nicht beim langen Tunnel beim S-Bahnhof Storkower Strasse, nicht einmal, als ich in den 90ern durch die Lichtenberger Weitlingstraße gelaufen bin. Ich habe mich immer und zu jeder Zeit hier sicher und frei gefühlt und ich habe der Stadt und den Menschen der Stadt vertraut, sie als meine Verbündeten im Schutzraum gesehen. Das ist jetzt vorbei. Für mich ist dies das schlimmere Verbrechen der Täter.

Matze Hielscher ist Gründer und Mitbetreiber des digitalen Stadtmagazins "Mit Vergnügen". Sein Beitrag erschien dort zuerst, wir veröffentlichen ihn hier noch einmal mit der freundlichen Genehmigung des Autors.

Matze Hielscher

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