zum Hauptinhalt

Berlin: Reglinde Rauskolb (Geb. 1942)

Farbschicht für Farbschicht: Auftragen, aushärten, bloß nicht platzen lassen!

Brüche und Schnitte. Sie war 50, zwei Kinder hatte sie alleine großgezogen und mehr als 20 Jahre als Apothekerin gearbeitet, als sie ein neues Leben begann. Eine Selbstbefreiung, eine Flucht nach vorn. Für ein Jahr ging sie von München nach Barcelona und besuchte eine Malschule, arbeitete, zeichnete, doch Fuß fasste sie dort nicht. Erst an einem anderen Ort, der sich ebenso gerade neu erfand, kam sie zu sich selbst, in Berlin. Sie wollte Kunst machen. Aber in ihrem Alter kam ein Studium an der staatlichen Hochschule der Künste nicht mehr in Betracht. Für eines an einer privaten Akademie reichten Zeit und Einkünfte gerade so. Zwei kleine Zimmer in Pankow, ein Halbtagsjob als Apothekerin, der Rest für die Kunst.

Dass sie etwas ganz Eigenes und Besonderes besaß und zum Ausdruck bringen konnte, fiel den Mitstudenten und der Leiterin der Akademie sehr schnell auf. Ihr selber nicht. Sie zweifelte und haderte mit ihren Arbeiten, die von Anfang an ziemlich anders aussahen als jene ihrer Kommilitonen. Die brachten noch gewissenhaft gegenständliche Stillleben auf die Leinwand, während sie aus der vor ihr liegenden Rose eine Farbe abstrahierte und in monochrome Bilder verwandelte, die so rotglühend und kurz vor dem Verbrennen waren wie sie selbst.

Fünf Jahre lang widmete sie sich der Kunstausbildung neben dem Brotberuf. Arbeiten in allen Gattungen und Disziplinen. Am Ende stand eine Abschlussarbeit, die sie in der Bernauer Straße realisierte. Selber nur ein zartes Pflänzchen mit weicher, leiser Stimme und grün strahlenden Augen rodete sie wie ein Berserker Büsche, jätete störrisches Unkraut, legte Gras an und zeichnete mit einem Kreidewagen vom Sportplatz die Grundrisse jener Häuser nach, die durch Mauer und Grenze einst dem Erdboden gleichgemacht worden waren.

Wenn es in ihrer Kunst ein markantes Merkmal gab, dann die unglaubliche Geduld und die unendliche Zeit, die sie ihren Werken angedeihen ließ. Extrem pastöse Bilder in Öl, nur 20 mal 20 Zentimeter groß, aber neun Zentimeter dick. Wie Sedimentgestein aufgebaut, in jahrelanger Prozedur, Farbschicht für Farbschicht: Auftragen, aushärten, bloß nicht platzen lassen! Um am Ende die geduldig angelegten Farbkulturen zu vervollkommnen, indem sie die Schichten aufbrach, zerschnitt, mit dem Messer frei legte und geometrische Körper aus ihnen schabte.

Sehr lange ebenso wichtig und unumgänglich: der ständige Zweifel, die Unsicherheit. Bin ich auf dem richtigen Weg? Sie hatte vieles aufgegeben, um sich und die Welt zu entdecken, ohne sichere Zukunft, ohne neuen Lebenspartner. Erst in dem Moment, in dem sie sich ihres Ausdrucks sicher war, errang sie eine Freiheit, mit der sie selbstgewiss in alle Richtungen schauen konnte. Auch zurück, in ihre Vergangenheit.

Ihr war es nie egal, ob Leute ihre Kunst anerkannten oder nicht, sie stellte aus, ließ Kataloge drucken. Der Kunstmarkt wartete nicht auf sie. Auszustellen, das bedeutet zunächst zu investieren, ohne etwas einzunehmen. Kunst ist billig, wenn es viel von ihr gibt. Wenn sie dann noch namenlos bleibt und von Künstlern jenseits eines gewissen Alters stammt, ist sie nahezu chancenlos, egal welche Tiefe und Individualität sie besitzt.

Reglinde Rauskolb hatte Förderer und fand Sammler, sie liebte die vielen kleinen Galerien in der Stadt. Ihr Atelier in Moabit wurde zu einem zweiten Zuhause. Aber der große Erfolg blieb aus. Nicht schlimm, denn die Kunst hatte ihr das Leben zurückgegeben. Daran konnte auch der Krebs nichts ändern, der ihre letzte Ausstellung vergeblich zu verhindern versuchte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false