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Berlin: Reimar Lenz (Geb. 1931)

Kein Gotteslästerer, sondern ein Experte für die weite Welt

Im Himmel über Reimar Lenz vertrugen sich die unterschiedlichsten Götter und Heiligen gut. Buddha hatte ihn schon früh die innere Sammlung gelehrt, Allah – wie ihn die Sufis verstehen – die Poesie der Mystik, und der Verkünder der Bergpredigt wurde sein Gewährsmann für die Rebellion gegen falsche Autoritäten. Kein Glaube sollte Lufthoheit beanspruchen, kein Gott gegen Toleranz und Verständigung in Stellung gebracht werden.

Während seines Philosophiestudiums, Ende der fünfziger Jahre, publizierte er in der Studentenzeitschrift der FU Aufsätze über den Glaubensdünkel der Kirchen und ihre Verstrickung in den Nazi-Terror. Der evangelische Bischof Otto Dibelius strich die finanzielle Unterstützung der Zeitschrift, und Reimar Lenz wurde in zwei Prozessen der Gotteslästerung beschuldigt. Beide gewann er. Rudolf Augstein interessierte sich für das polemische Talent und ließ ihn für den „Spiegel“ schreiben. So war um 1960 entschieden, dass Reimar Lenz lieber reisen, andere Kulturen kennenlernen, die Welt beschreiben wollte, als im Wohlstand einer bürgerlichen Karriere zu versauern.

Er war Mitglied in linken Studentenverbänden, war bestens vernetzt mit den Zirkeln, die in die Achtundsechziger-Bewegung mündeten. Mit Ulrike Meinhof ging er spazieren und formulierte Resolutionen, doch es kam zum Streit. Reimar Lenz lehnte Gewalt, Revolution und alles, was nach Parteiauftrag roch, rundweg ab. Lieber reiste er zu den Sufi-Derwischen nach Anatolien, probierte das Aussteigerleben in Marokko und wurde mit seinen Artikeln, Hörspielen und Radiofeatures zum Experten für die weite Welt der alternativen Lebensformen, bevor Hippies die Pfade zertrampelten.

Die Anerkennung als Schriftsteller hätte Reimar Lenz gutgetan. Doch als er bei einem Treffen der Gruppe 47 seine Gedichte vorlas, verspottete ihn Günter Grass als neuen Rainer Maria Rilke. Lenz nahm es souverän. Die Postbotin, sagte er, entscheide jeden Tag neu über sein Leben, je nachdem ob sie Aufträge oder Rechnungen oder eine weitere Bitte um Hilfe ins Haus trug. Wenn ihn jemand bat, dann recherchierte er – ohne Computer, mühevoll – alles über Landkommunen in der Schweiz oder über Meditation in Dortmund.

Viele Jahre verdiente er seine Brötchen bei Tagungen der Evangelischen Akademien, die bei aller politischen Distanz seine Redekunst und seine religionsgeschichtlichen Kenntnisse schätzten. Große Bedeutung erlangten seine Forschungen über die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus. Mit einem Aufsatz, den er hierzu 1967 publizierte, erlangte er seinen größten Erfolg.

Konflikte, die Reimar Lenz im eigenen Elternhaus erlebte, schwangen zwischen den Zeilen all seiner Schriften nach. Geboren in München als Sohn eines Wissenschaftlerpaars, das den Ideen der „Rassenhygiene“ anhing, erlebte Reimar Lenz in Berlin eine widersprüchliche Kindheit im Schatten des Nationalsozialismus. Die Mutter behütete den sensiblen und hochbegabten Jungen, die Freundschaft zu einem Nachbarsjungen aus einer verfolgten Familie verboten die Eltern nicht. Der Vater besorgte sogar Atteste, die ihn vor der erbarmungslosen Eliteschulung in einer Napola bewahrten. Nie zur Sprache kam jedoch die hochrangige Funktion seines Vaters Fritz Lenz am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin, das der wissenschaftlichen Legitimierung der SS-Mordmaschinerie diente.

Reimar Lenz lebte sein Leben als entschiedene Absage an den totalitären Wahn, von dem sich seine Familie nur halbherzig distanzieren konnte. Zusammen mit seinem Lebenspartner Hans Ingebrand engagierte er sich in Friedensdemonstrationen, Umweltaktionen und in der Schwulenbewegung. Bei ihren Mahnwachen gegen die Atomrüstung an der Gedächtniskirche holten sie sich immer wieder „kalte Beene für den Frieden“. Regelmäßig luden sie zu einem politischen Salon in ihrer Künstlerbehausung. Es gab Gespräche mit Palästinensern und Israelis, Gesichter und Stimmen galten dem Freundespaar mehr als abstrakte Nachrichten. Ein Fernseher kam ihnen nicht ins Haus.

In den achtziger Jahren lief Reimar Lenz den Filmemachern der Langzeitdokumentation „Berlin Ecke Bundesplatz“ vor die Kamera. Kauzig, schlagfertig und seines Charmes bewusst, schloss der Lebenskünstler seinen Freund Hans Ingebrand in das allmähliche entstehende Doppelporträt ein. Unvergesslich die Bilder, wie sie zum Standesamt radeln und als eines der ersten schwulen Paare in Berlin nach dem Eintrag ihrer Lebenspartnerschaft in Winterpullovern mit einem Bund krauser und glatter Petersilie posieren.

Abschied zu nehmen von der eigenen geistigen und körperlichen Kraft, das fiel ihm schwer. So lange es ging, setzte er die Paschtunen-Kappe auf sein eindrucksvolles Haupt und brach mit seinem Mann zum Spaziergang im Volkspark auf.

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