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Berlin: Reinald Hapke (Geb. 1952)

"Sagt ein Schwein zum anderen: Mir ist Wurst, was aus uns wird."

Oh Gott, wie sieht der denn aus!“, rief die Hebamme. Ganz blau waren Reinalds Beine und angeschwollen. Wegen einer Gefäßerkrankung war Reinalds Durchblutung unterhalb des Bauchnabels gestört. Er hatte mehr Blutgefäße als üblich, aus seinen Beinen quollen die blauen Adern.

Deshalb hat ihn irgendwann, als er so durch den Wald stapfte, jemand „Waldschrat“ genannt. Davon blieb später „Schrat“. So nannten ihn dann alle.

Reinald war das Nesthäkchen. Neben Bruder und Schwester nahm er einen Schonplatz in der Familie ein. Vom Sport war er ohnehin befreit. Und wenn die anderen draußen eine Radtour machten oder wanderten, blieb er zu Hause. Freunde hatte er kaum. Er musste andere Wege finden, die Welt kennenzulernen.

Der Vater war Bankkaufmann, die Mutter Buchhändlerin. Reinald versuchte nach ihrem Vorbild so viel Leben in seinem Zimmer zu versammeln wie möglich: Mit sechs bekam er von seinem Onkel die erste Münze aus einem fernen Land, aus Chile. Im Lauf der Jahre kamen Zinnsoldaten, Becher, Säbel und ausgestopfte Tiere hinzu. Und vor allem: Bücher, am liebsten über Geschichte und Psychologie. Er hatte ja Zeit und verinnerlichte so die Welt, in der die anderen herumtollten.

Wie sich die Welt tatsächlich anfühlt, das fand Reinald über die Pfadfinder heraus. Eigentlich durfte man damals erst mit acht Jahren beitreten. Aber der ältere Bruder war schon dabei und der sechsjährige Reinald drängelte so lange, bis sie eine Ausnahme machten. Bald kannte dort kaum einer mehr seinen richtigen Vornamen.

Skandinavien, Schottland, Marokko, Polen – Schrat fuhr gerne weg, Hauptsache nicht zu schnell: Über 100 km/h durften es nicht sein mit dem Auto. „Willst du uns umbringen?“, rief er dann und klammerte sich am Türgriff fest. Er selbst fuhr, wann immer es möglich war, nur Landstraße. Überhaupt fuhr er lieber, wenn die anderen wanderten. Wegen der Beine. Und die Pfadfinder in seiner Gruppe fuhren mit: „Eine Gruppe muss zusammenhalten!“ Schrat, das war eben der Einzige, der im Sommer lange Hosen trug, und die Gruppe von Schrat, die fuhr eben überall mit dem Auto hin. So einfach war das.

Ein paar Jahre versuchte es Schrat als Beamter auf Probe, im Sozialamt. „Hier am Schreibtisch zu sitzen, das ist nichts für mich“, sagte er bald und kündigte. Er konnte gut mit den Jugendlichen, betreute zahlreiche Gruppen. Auch die, die das Jugendamt für problematisch hielt. Nie gab er einen auf. Jeder verdient eine neue Chance, fand er, und hatte dazu immer noch einen seltsamen Spruch parat, bei dem man erst ein bisschen überlegen musste, bis man ihn verstand. Sein liebster war: „Sagt ein Schwein zum anderen, mir ist Wurst, was aus uns wird.“ Keiner ist besser als der andere, sollte das heißen, also lasst uns mal alle auf dem Teppich bleiben.

Materielles war ihm ohnehin nicht wichtig. Immer, wenn irgendeiner bei den Pfadfindern sagte: „Ich will das haben“, schrie Schrat: „Ich will das nicht haben!

Im Jahr 2000 bekam Schrat dann doch etwas: Den Abenteuerspielplatz in Steglitz. Der Bezirk überließ ihm das Grundstück, Schrat hatte alles aufgebaut, einen großen Garten mit Hütte, direkt am Park. Er wurde Geschäftsführer, organisierte weiter die Zeltlager und kümmerte sich um die 60 Pfadfinder und die Anrufe ihrer Eltern. Er verbrachte dort seine ganzen Tage, auch wenn er nur für ein paar Stunden bezahlt wurde.

Längst war Schrat der Älteste in den Pfadfinderlagern. Er konnte alle Fahrtenlieder auswendig, spielte Gitarre und erzählte die Geschichten im Camp. Meist ausgedachte: „Vor langer, langer Zeit …“ Bis alle eingeschlafen waren, erzählte er. Und dann weiter. Wenn er seine Geschichte besonders gut fand, weckte er alle wieder auf.

Vor zwei Jahren musste er für vier Wochen in die Klinik. Die Ärzte rieten ihm, sich zu schonen, nicht mehr jede Fahrt mitzumachen, und vor allem: nicht immer auf dem Boden zu schlafen. Es wäre kein Problem gewesen, in einer der Hütten mit Bett zu schlafen. Aber Schrat blieb in seinem Zelt. Und wenn er morgens um sechs Uhr aufs Klo musste, dann nahm er den Wagen. Der stand nur wenige Schritte vom Zelt entfernt. Schrat legte also den Rückwärtsgang ein und setzte 50 Meter zurück zur Hütte.

Das letzte Lager, bei dem er mit war, hatten sie in Brandenburg aufgeschlagen, in Lehnin. Am Tag der Abreise setzte sich Schrat in seinen Wagen und wollte gerade losfahren, da spuckte er Blut. Ein Aneurysma im Magen. Dazu stellten die Ärzte eine Blutvergiftung fest, eine Lungenentzündung, und ein Nierenversagen.

Über 300 Pfadfinder aus ganz Deutschland und dem Ausland kamen zu Schrats Beerdigung und zogen danach auf seinen Abenteuerspielplatz. Auf sein Grab hatten sie einen Kranz mit seinem Lieblingsspruch gelegt: „Sagt ein Schwein zum anderen: Es ist Wurst, was aus uns wird.“ Irgendjemand fand, das sei nicht angemessen und schnitt das Band ab. Jemand, der sehr viel weniger vom Leben verstand als Schrat.

Sebastian Dörfler

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