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Die Reise in die Unterwelt. Ein Ort, der die Fantasie anregt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Reise in die Unterwelt: Was liegt unter Berlin?

Der Untergrund birgt viele Geheimnisse: Kanäle, Bunker, Testanlagen. Bald könnte er noch wichtiger werden. Denn die Zukunft der Metropolen liegt in der Tiefe.

Von Markus Lücker

Der Herr über die Unterwelt wartet im Kellergewölbe einer längst nicht mehr brauenden Brauerei und trägt ein blaues Hemd, bedruckt mit großen Tropenblumen. Seine Füße stehen in einer Matschpfütze, in einem an der Wand hinter ihm angebrachten Glaskästchen steht eine Statue der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Tunnelgräber und Bergleute. Ein paar Meter weiter sind zwei Arbeiter gerade damit beschäftigt, Beton anzurühren. Stützelement Nummer 88 soll an diesem Tag noch befestigt werden. Der Herr der Unterwelt und seine Leute tun, was sie immer tun: Sie machen ihr Reich anderen zugänglich.

Dietmar Arnold ist der Vorsitzende des Berliner Unterwelten e. V., eines Zusammenschlusses von Historikern und Hobbyhistorikern, seit den 90er Jahren erforschen sie den Untergrund Berlins: Industrieanlagen, Luftschutzbunker, stillgelegte U-Bahnhöfe. Interessierten bieten sie Führungen an, manchmal sind es mehr als 40 Touren am Tag in sieben Sprachen. 330.000 Oberweltler nahmen im vergangenen Jahr an solchen Führungen teil.

Hier im Keller der einstigen Oswald-Berliner-Brauerei, die vor eineinhalb Jahrhunderten das Weizenbier in die Stadt brachte, geht es dem Unterweltenverein und seinem Chef seit einem Jahr darum, einen Fluchttunnel aus Mauerzeiten zu erschließen. Um den zu erreichen, lassen sie – unterm Grenzland von Mitte und Gesundbrunnen, irgendwo dort über Tage trifft die Brunnen- auf die Bernauer Straße – einen Besuchertunnel graben.

Den Schutt und Dreck bringen die Vereinsmitglieder an den Wochenenden selbst an die Oberfläche. Ausgehend vom Brauereikeller entsteht ein 25 Meter langer Gang, in einer Tiefe von sieben Metern soll er den Fluchtweg von 1971 kreuzen und so bei künftigen Touren einen Einblick gewähren.

Einen Einblick in einen Teil der Stadt unter der Stadt. In jene unterirdische Welt, ohne die die andere nicht lebensfähig wäre. In der Tiefe haben die Berliner Verkehrsbetriebe 295 Kilometer U-Bahn-Gleise verlegt, 34.707 Kilometer Stromleitungen sind hier zu finden und ein 13.869 Kilometer langes Gasnetz. Tiefgaragen, Fernwärmerohre, Auto-, Eisen-, S-Bahn- und eben auch Fluchttunnel.

Zukunft im Untergrund und konservierte Vergangenheit

Es ist eine Welt, von der manche Architekten glauben, dass sie bald noch viel größer werden könnte, als sie ohnehin schon ist. Dass in ihr nicht nur Menschen und Dinge von einem Ort zum andern transportiert werden, sondern die Menschen in ihr auch sesshaft werden. Die Bewohner Londons wissen längst, wovon hier die Rede ist.

Berlins Untergrund indes, jener Teil davon, der Arnold und seinen Verein besonders interessiert, ist noch keiner der Zukunft. In ihm findet man die Gegenwart und konservierte Vergangenheit. Den Brauereikeller hier in der Brunnenstraße zum Beispiel, „Unterweltgeschichte“, sagt Arnold. Fürs Weizenbierbrauen braucht es Kühle, und kühl war es – die Brauerei wurde um 1869 gegründet – im Sommer vor allem in Kellern. Die Gewölbe sind groß genug, dass hier gelegentlich Theaterstücke aufgeführt werden.

Nun geht von ihnen also ein Gang ab, schmal wie ein Türrahmen, ein Haufen kohlkopfgroße Findlinge liegt am Eingang, an einer Stelle muss Arnold in die Knie gehen, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Alles ist grau, nur sein Tropenshirt bringt ein bisschen Farbe an den Ort. Und da ist er dann, angeleuchtet von einer Deckenlampe und noch fast vollständig verschüttet: der letzte bekannte Fluchttunnel, der von West- nach Ost-Berlin gegraben wurde.

Viele der Fluchttunnel – 75 begonnene lassen sich nachweisen, 19 waren erfolgreich – sind eingestürzt oder wurden zugeschüttet. „Die sind ja nicht für die Ewigkeit gebaut worden“, sagt Arnold. „Der Boden war hier so fest, dass die damals nicht mal Holz zum Abstützen benutzt haben.“ 1,1 Meter hoch ist der Tunnel, angelegt hat ihn Hasso Herschel, einer der berühmtesten Fluchthelfer der Zeit. Zweimal schon hatte er Tunnel in den Osten gegraben. Dies sollte sein dritter werden. Doch die Arbeiten flogen auf, 17 Fluchtwillige wurden verhaftet, Herschel und seine grabenden Helfer konnten entkommen.

Der Tunnel blieb, so wie der Weizenbierkeller, er verfiel nur schneller. Quasi nebenan bringt die U-Bahn-Linie 8 Menschen von Nord nach Süd und umgekehrt. Die Kanalisation schafft das Abwasser fort. Trinkwasser erreicht die Kunden Berlins über 275.000 Anschlüsse zwischen Versorgungsleitungen und den Häusern.

Größtes Projekt: Ausbau der U5-Linie

Es ist voll hier unten. Ist es das? Peter Hoppe winkt ab. Mit um Platz konkurrierenden Rohren und Kabeln habe er bei seiner Arbeit nichts zu tun: „Da graben wir einfach drunter durch.“ Hoppe ist dafür verantwortlich, dass die U-Bahn-Linie 5 künftig unter der Innenstadt, vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof, fährt. Von oben schaut er in das Loch, das er und seine Kollegen dafür beim Roten Rathaus ausgehoben haben. Zwölf Meter geht es vor dem Projektleiter des Bauunternehmens Implenia steil abwärts. Eine quadratische Grube, gerahmt von blassen Betonplatten, tut sich auf.

Über eine Treppe aus Metallgestängen steigt er hinab. Bei jedem Schritt quietscht die Konstruktion. Unten angekommen steht er vor den beiden Bahntunneln. Der 700-Tonnen-Bohrer „Bärlinde“ hat sich von hier aus zweimal je 1,6 Kilometer unter der Stadt entlanggegraben. Einmal für jede Fahrtrichtung. Wo einst Erde war, reihen sich nun Tausende Stahlbetonringe aneinander, jeder einzelne ist 26 Tonnen schwer. Auf Höhe des Brandenburger Tors soll der Bahnverkehr künftig 20 Meter unter der Erde verlaufen – Tiefenrekord für die Berliner Verkehrsbetriebe.

Hoppe drückt auf einen Knopf und lässt in einem halben Kilometer der Röhre die Lichter angehen. So weit ist es bis zum nächsten Bahnhof an der Museumsinsel. Erst geht der Tunnel bergab, dann wieder bergauf. Das ist Standard bei der Streckenplanung. Den Zügen hilft das beim Beschleunigen und Abbremsen. 30 Jahre arbeitet Hoppe schon auf dem Bau, sechs davon an der U5-Erweiterung. Die Jeans trägt er tief sitzend, die Arme streckt er immer ein bisschen vom Körper ab – wie ein Revolverheld, bereit für jede Gefahr.

Im Tunnel ist die Luft so trocken, dass Schleimhäute kribbeln und Lippen rau werden. Den typischen U-Bahn-Duft nennt Hoppe das. Auf der Bahnhofsbaustelle dahinter hingegen ist es so kalt, dass sein Atem kondensiert. Eiskristalle an den Wänden bringen den Spritzbeton zum Glitzern.

Grund dafür ist die Bauweise. Der zukünftige Bahnhof liegt direkt unterm Spreekanal. Anders als am Roten Rathaus konnte deshalb nicht einfach ein Loch gegraben und dann abgedichtet werden. Stattdessen wurden unterirdisch 100 Metallrohre über eine Distanz von 105 Metern unter der Spree entlanggetrieben. Durch die Rohre wurde anschließend Kühlflüssigkeit geleitet und so die umliegende Erde samt Grundwasser eingefroren. Minus zwölf Grad ist der Boden kalt. Bis 2019 wird der Bereich nun im Schutz der gefrorenen Grundwasserkruste ausgebaggert und ausgebaut.

„Wir haben Quantensprünge beim unterirdischen Bauen gemacht“, sagt Hoppe. Die Situation mit dem nahezu allgegenwärtigen Berliner Grundwasser sei risikobehaftet, aber beherrschbar geworden. Risikobehaftet, weil die U5-Röhre trotz technischer Fortschritte immer wieder undichte Stellen hatte. Im August 2014 drangen nahe dem Bahnhof am Brandenburger Tor Wasser und Erde in den Tunnel. Sechs Kubikmeter von Letzterem. Genug, um eine Litfaßsäule aufzufüllen. Die darüberliegende Straße musste gesperrt werden. Die Arbeiten verzögerten sich um ein halbes Jahr. Ursache war eine Schwachstelle an einer Bahnhofswand.

Internationale Visionen für die Unterwelt

Tiefbau kann sehr teuer werden, nicht zuletzt wegen des hohen Berliner Grundwasserspiegels. Im Urstromtal unter der Innenstadt muss nur drei Meter tief gegraben werden, dann wird es nass. Deshalb, sagt Hoppe, würden unter der Stadt vor allem Tiefgaragen gebaut. „Weil die Wirtschaftlichkeit entscheidet“, sagt Hoppe und die Wirtschaftlichkeit sagt: Die paar Quadratmeter für einen Stellplatz können dem Vermieter mehr als 100 Euro pro Monat einbringen. 580 Tiefgaragen wurden in den letzten fünf Jahren allein vom Bauamt in Mitte genehmigt, teils großflächig für ganze Nachbarschaften, teils als Kellerausbau zum Eigenheim.

Kristin Feireiss ist das nicht genug. „Unsere Architekten müssen den gesamten Untergrund umdenken“, sagt sie. „Die Platznot in den Großstädten zwingt uns, aus diesem verborgenen Raum einen Raum des alltäglichen Lebens zu machen.“ Kaufhäuser, Kultur, Büros, Fabriken, das Erdreich biete Platz genug. Barfuß tapst die 76-Jährige durch ihre weiträumige Kreuzberger Dachgeschosswohnung.

Feireiss ist eine der führenden Architekturexpertinnen des Landes, sie fördert Visionäre durch Ausstellungen, die sie kuratiert. Als erste und bislang einzige Deutsche schaffte sie es in die Jury des Pritzker-Preises, der international gewichtigsten Architektenauszeichnung.

Zu Beginn des Jahres veranstaltete sie eine Ausstellung zum Thema Untergrundarchitektur. Der in Berlin für seine zur Hälfte in den Boden gesetzte Velodrom-Mehrzweckhalle bekannte Dominique Perrault stellte sein aktuelles Projekt in Südkorea vor. Sein „Lightwalk“ soll sich quer durch den dicht bebauten Wohlstandsbezirk Gangnam der Hauptstadt Seoul ziehen.

Unter einer 60.000 Quadratmeter großen Fläche werden sieben Etagen in den Boden gebaut und gefüllt mit einem Bahnhof, einer Metrostation, mit Bushaltestellen und Straßentunneln. Aber auch mit einer Veranstaltungshalle, Büros, einem Lernzentrum, mit Kunstgalerien und Restaurants. Obendrauf kommt ein Park als Deckel und ein lichtdurchfluteter Glastunnel, der aus dem Komplex herauswächst und ihm seinen Namen gibt. Die Fertigstellung ist für 2023 angesetzt. Das Beeindruckende am Untergrund sei mittlerweile, „wie wir ihn tatsächlich an einigen Orten bereits nutzen“, sagt Feireiss. „Und da kann noch so viel mehr passieren.“

Eisberghäuser für Londons Superreiche

Zu Kriegszeiten boten Bunker Schutz. Manche mehr, manche weniger.
Zu Kriegszeiten boten Bunker Schutz. Manche mehr, manche weniger.

© Mike Wolff

Man kann unten wohnen, zum Beispiel. Sich dort in sein eigenes Kino setzen. In seine Sauna. Im Schwimmbad schwimmen. Gäste- und Dienstbotenzimmer und Fitnessräume bauen, Großgaragen für die Autosammlung und Großkeller für die Weinflaschen. In London ist es so.

Eine Studie der Universität Newcastle zählt in den sieben wohlhabendsten der 32 Londoner Stadtteile 4650 genehmigte Kellerausbauten in den zehn Jahren von 2008 bis einschließlich 2017, das entspricht einem guten halben Prozent der Haushalte in diesen Vierteln.

Eisberghäuser werden diese Immobilien genannt, weil sie unterirdisch oft weit größer sind als ihr sichtbarer Teil über der Erde – der oft denkmalgeschützt und damit nicht erweiterbar ist. Bei 112 der bewilligten Kellerausbauten ließen die Bauherren Platz für mindestens drei Stockwerke unter den Grundrissen ihrer Häuser schaffen.

Das mag dekadent erscheinen, nüchtern betrachtet ist es nichts anderes als das, was die Architektin Feireiss sagt: aus verborgenem Raum einen Raum des alltäglichen Lebens zu machen. Eine Antwort von – in diesem Fall schwerreichen – Menschen auf die von ihnen empfundene oberirdische Platznot.

Helsinkis Antwort auf diese Not sieht ähnlich aus – und dennoch ganz anders. Auch in der finnischen Hauptstadt investieren Staat und Unternehmer in den Untergrund, teilweise seit mehr als fünf Jahrzehnten, nur Wohnungen bauen sie dort nicht. Stattdessen wird versucht, nahezu alles andere, was sich in Städten üblicherweise über der Erdoberfläche befindet und dort Platz beansprucht, nach unten zu verlagern: eine Kirche, eine Eishockeyarena, den Lieferverkehr.

Kaufhäuser bekommen ihre Waren über Lastenaufzüge aus 30 Metern Tiefe geliefert, darunter auch „Stockmann“, das größte im Land. Es gibt ein unterirdisches Schwimmbad in Helsinki, ein Kohlelager und ein Rechenzentrum. Zehn Millionen Kubikmeter umbauter Raum befinden sich nach Angaben der Stadtverwaltung unter der Erde. Die Cheopspyramide müsste viermal im Boden versenkt werden, um auf diese Zahl zu kommen.

Der Untergrund gebe den Investoren durch den vielen Platz eine Gestaltungsfreiheit, die sie an der Oberfläche nicht mehr hätten, sagt die dafür zuständige Planerin, Eija Kivilaasko. „Es gibt Grenzen, aber meistens sind das nur Fragen der Technik.“ Die Bevölkerung der Stadt wächst rasant, 2017 um 1,3 Prozent und damit stärker als in Berlin. Mittlerweile sei es billiger, in Helsinkis Felsboden zu bauen als an der immer teurer werdenden Oberfläche, sagt Kivilaasko.

Unter der Erde nach Schutz suchen

Im Jahr 2010 verabschiedete der Stadtrat ein langfristig angelegtes Planwerk, den „Underground Master Plan“, um den Andrang im Untergrund stadtpolitisch – und geologisch – beherrschbar bleiben zu lassen. Ziele wurden definiert. Eines davon ist der Schutz der Bevölkerung, im Notfall kann etwa das Untergrundschwimmbad zu einem Bunker umgebaut werden. Zu einem jener Schutzräume also, die einst auch in Berlin massenhaft gebaut worden sind – 1000 soll es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben haben.

Viele dieser Anlagen dienten eher zur Beruhigung der Bevölkerung, mehr zur Illusion von Sicherheit als zu tatsächlichem Schutz. So wie die Anlage am U-Bahnhof Gesundbrunnen. Der Unterweltenverein hat hier einen Ticketschalter gebaut, 50 Besucher warten auf den Beginn einer Führung.

An einer sonst versperrten Metalltür kontrolliert ein Vereinsmitglied die Karten wie am Kinoeinlass. Sein Kollege kündigt an: „Jetzt geht es von der Gegenwart in die Vergangenheit“: hohe Decken, Kälte, Treppen runter, Treppen rauf, Raum an Raum. Es ist ein Labyrinth in Grau- und Beigetönen, einst von französischen Zwangsarbeitern ausgebaut. Durch schroffe Wände dröhnen die Züge der U8. Der Klang baut sich auf wie eine Welle, gewinnt an Masse, Tiefe, ist jetzt ganz nahe, bricht am Höhepunkt, flacht ab – Ruhe. Die Decken und Filteranlagen hätten im Notfall vor Splittern, Bränden und Gasen geschützt, sagt der Unterwelt-Fremdenführer. „Bei einem direkten Bombentreffer hätte es aber ordentlich gerumst.“

An die Wände sind Hinweise geschrieben. Zum Männer-Abort. Gasschleuse. Raum 17, Sanitätszimmer, Aufenthaltsraum für maximal zehn Personen. Raum 16, Befehlsstelle, Rauchen verboten. Ertönten zu Kriegszeiten die Warnsirenen, eilten die Menschen zu Tausenden zur Anlage, kauerten dicht gedrängt auf Wartebänken – und mussten nach spätestens zwei Stunden wieder raus, weil dann der Sauerstoff knapp wurde.

Die Illusion von Schutz ist ein wiederkehrendes Motiv im Berliner Untergrund. Unter der nuklearen Bedrohung des Kalten Krieges entstanden neue Schutzbunker. 23 stehen noch in Berlin, 19 liegen unterirdisch. Wenn die Atombomben fallen, sollten sie 21.791 Menschen Unterschlupf bieten, ausgestattet mit Essenskonserven, Duschanlagen und Einheitskleidung. Zwei Wochen hätten sie dort verbringen können, in Schlafhallen mit bis zu vieretagigen Stockbetten.

2007 befand das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, dass die Bunker nicht mehr gebraucht würden. Die vom Bund beaufsichtigten Anlagen wurden an ihre vorherigen Besitzer zurückgegeben, etwa an die Berliner Bezirke. Bei vier Bunkern steht das bislang noch aus.

Drehorte für "Babylon Berlin" und "Der Untergang"

Der Reiz, Geschichten anhand der Unterwelt zu erzählen, halte bis heute an. „Wir kriegen regelmäßig Anfragen für Filmdrehs“, erzählt ein Unterwelten-Sprecher. Mal gehe es um Musikvideos, mal um Youtuber. Den Großteil lehnt der Verein ab. Nur bei historischen Produktionen werde gelegentlich eine Genehmigung erteilt. Bei „Der Untergang“ mit Bruno Ganz hatte der Verein beratende Funktion.

Für die Serie „Babylon Berlin“ wurden Szenen in einem von der AEG errichteten Versuchstunnel gedreht. Südlich vom Volkspark Humboldthain fuhr ab dem 31. März 1897 deutschlandweit die erste Untergrundbahn, elektrisch angetriebene Züge transportierten Arbeiter und Material über 295 Meter zu einem anderen AEG-Fabrikgelände an der Ackerstraße. Die U-Bahn für die reguläre Bevölkerung ging ab 1902 am Potsdamer Platz in den Untergrund.

Was sonst noch unter Stadt vergraben liegt, weiß Regina Kerschke. Oder zumindest kann sie es herausfinden. Gästen bietet die Geodatenexpertin zur Begrüßung Sprudelwasser an: „Unser gutes!“, verkündet sie stolz. Kerschke kümmert sich bei den Wasserbetrieben darum, das hausinterne Kartenmaterial aktuell zu halten. Damit Handwerker die Rohre bei Reparaturarbeiten auch wiederfinden. Oder damit ein neu zu bauender Verkehrstunnel nicht plötzlich mit Abwasser vollläuft, weil sich der Bohrer in einen Kanal gefressen hat.

Wer bauen will, kommt ohne ihre Daten nicht aus. 18.724 Kilometer Rohre und Kanäle beaufsichtigt Kerschke von ihrem Büro am Wilmersdorfer Hohenzollerndamm aus, zwei nebeneinandergestellte Holztische braucht sie dafür und einen Computerbildschirm darauf. Nur das Metalllineal mit einstellbarem Maßstabsverhältnis erinnert daran, dass Kerschkes Position in der Vergangenheit mit viel mehr Handarbeit verbunden war.

Schon in der DDR war sie für das Wasser verantwortlich: „Wir haben damals das ganze Netz von Ost-Berlin aus verschiedensten Karten zusammengesammelt und auf einen einheitlichen Maßstab übertragen.“ Damit auch alles zueinanderpasste. Manchmal seien die Rohre noch von Hand gezeichnet, meistens aber mithilfe einer Spezialfolie auf die Karten gerubbelt worden. Seit 2012 liegen die Daten vollständig digital vor.

Roboter in den Abwasserkanälen

Auf ihrem Monitor ist ein Kartenausschnitt des Gebiets um das Frankfurter Tor in Friedrichshain zu sehen: dunkelblaue Linien für Regenwasserkanäle, braun für Schmutzwasser, hellblau für Trinkwasser, grün für Druckleitungen, die Abwasser ins Klärwerk führen. Per Klick auf die Karte öffnet sie einen Querschnitt der Rohre an der Ecke Warschauer Straße. Oben verläuft die Trinkwasserleitung, Metall, knapp ein Meter Durchmesser. „Ziemlich dick also.“ Eine solche sogenannte Hauptleitung hat für gewöhnlich einen Durchmesser von nicht mehr als 1,40 Meter, häufig ist es ein Drittel davon.

Auch von den teilweise 140 Jahre alten Kanälen des Abwassersystems sind nur knapp fünf Prozent so groß, dass sie begehbar sind. In den Rest der Anlagen schaffen es nur die Reinigungs- und Reparaturroboter, groß wie Staubsauger, ausgestattet mit Werkzeugen und Kameras. Bohrt sich eine Baumwurzel in ein Rohr, schneidet sie der ferngesteuerte Roboter per Hochdruckstrahler ab und dichtet das Loch mit Epoxydharz ab. Im Abwasserbereich werden bereits zwei Drittel der Wartungen vorgenommen, ohne dass irgendwo etwas aufgegraben werden muss.

„Sie müssen nur die Straßen aufgraben und Sie werden auf irgendeine Leitung stoßen. Das ist alles voll“, sagt Regina Kerschke. Kürzlich sollte ein Trinkbrunnen auf dem Hermann-Ehlers-Platz in Steglitz aufgebaut werden. Die Netze der verschiedenen Versorger seien an der Stelle jedoch so dicht gewesen, dass selbst für diesen kleinstmöglichen Eingriff kein Platz mehr war.

Die Verkehrsbetriebe haben die U-Bahn-Tunnel meist so nahe an der Erdoberfläche gebaut, dass die Züge im Ausland den Ruf tiefergelegter Straßenbahnen haben. Stromleitungen sind ebenfalls weit oben vergraben, das Netz der Telekom und der Kabelfernsehanbieter und Fernwärmerohre. Trinkwasserrohre haben eine Mindesttiefe von 150 Zentimetern, damit sie im Winter nicht einfrieren. Pumpleitungen zur Erdwärmenutzung führen bis zu 100 Meter in die Tiefe. Abwasserwasserleitungen werden mit leichtem Gefälle gebaut, bis sie im Pumpwerk ihren tiefsten Punkt erreichen.

Eine neue Heimat

Berlins Unterwelt, so scheint es, ist ein Ort des Flüchtigen. Alles kommt und geht und fließt und rollt und strömt. Und wenn sich Menschen hier einfinden, dann ebenfalls nur für eine Zwischenzeit. Sie gehen hier unten ihrer Erwerbsarbeit nach, ihrer Vorliebe für die Stadtgeschichte, oder sie kommen herab, um sich vor den Schrecken über der Oberfläche zu schützen. An Sesshaftigkeit ist nicht zu denken. Und wenn doch, dann handelt es sich bei den Dauerbewohnern um Tiere.

Am Einlass zum Wasserwerk Friedrichshagen am Müggelsee nennen sie Carsten Kallasch „den Fledermaus-Papa von Berlin“. In einem unter einem grasbewachsenen Hügel verborgenen alten Wasserspeicher hat er hier ein Winterquartier für die Tiere errichtet. „Heimspiel“ nennt er es, als er an der Anlage ankommt. Allein im vergangenen Winter hat er 43 solcher Quartiere begutachtet, häufig unterirdisch.

Eine steinerne Treppe führt hinab in den Speicher. Kallasch schaltet seine Taschenlampe an, im Lichtkegel krisselt die Luft vor Nässe. Es dauert nicht lange und er ist von sechs Tieren umgeben. „Das ist für mich Entspannung“, sagt er.

Der Biologe wird häufig von Bauherren beauftragt, Fledermausbestände auf einem Grundstück zu prüfen. Ihre Lebensstätten dürfen nicht beschädigt oder zerstört werden. Soll ein Kellerraum saniert werden und darin werden Fledermäuse gefunden, müssen die Tiere umgesiedelt werden – so geschehen beim geplanten Bau des Einheitsdenkmals in Mitte. In den Gewölben unter dem Platz zogen Waldfledermäuse ihre Jungtiere auf. Das hat die Denkmalsplanungen durcheinandergeworfen. Um solche Zwischenfälle zu vermeiden, werden Biologen wie Kallasch angeheuert.

Kallasch, der Mann, der Heimspiel gesagt hat, bevor er ins Friedrichshagener Dunkel trat. Heim, wie Zuhause. Er weiß, dass der Unterwelt nicht mehr Unheimliches anhaftet als den Orten obendrüber. Sie ist den allermeisten Menschen nur sehr fremd geblieben.

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