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Berlin: Rekattestraße 67, Gemüsefabrik

Wo die Erinnerung der Ex-Zwangsarbeiter versagt, helfen Historiker der Berliner Koordinierungsstelle weiter

Von Amory Burchard

„Flukswarsen Berlin Rudof.“ Drei Wörter aus Deutschland hat der alte Pole länger als ein halbes Leben mit sich herumgetragen. Als er sie fast 60 Jahre nach Kriegsende aus der Erinnerung hervorholt, sind zwei fast unkenntlich geworden. Aber irgendjemand muss ihm gesagt haben, dass es helfen kann, diese Wörter nach Berlin zu schicken. Er schreibt sie auf seinen Entschädigungsantrag und fügt auf Polnisch hinzu: „Fabryka samolotów“. Da sei er Zwangsarbeiter gewesen.

Tatsächlich sitzen in Berlin Leute, die mit den Erinnerungsfetzen des alten Mannes etwas anfangen können – Mitarbeiter der Koordinierungsstelle für die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Die polnische Gaststudentin Aleksandra Muth, die dort für ein Jahr arbeitet, hat den Brief ihres Landsmannes gerade geöffnet. „Fabryka samolotów – Flugzeugfabrik“ übersetzt sie. Am Nebentisch sitzt ihr Kollege, der Historiker Cord Pagenstecher. Er denkt laut nach: „Flukswarsen müsste Flugzeugfabrik heißen. Berlin-Rudow? – das könnten die Henschel-Flugzeugwerke in Schönefeld sein.“

Seit eineinhalb Jahren haben die zehn Rechercheure der Koordinierungsstelle tausende von Briefen aus Russland, der Ukraine und aus Polen geöffnet, seitenlange Lebensberichte oder sauber ausgefüllte Antragsformulare studiert und versucht, Nachweise zu finden für in Berlin zwischen 1940 und 1945 geleistete Zwangsarbeit.

Überlebende sollen eine symbolische finanzielle Entschädigung bekommen: KZ- oder Getto-Häftlinge bis zu 7600 Euro, Industriearbeiter bis zu 2500 Euro. Von den gut fünf Milliarden Euro, die Bundesregierung und Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Verfügung stellten, wurden bis Ende Juli 1,6 Milliarden Euro an bislang 867 000 Leistungsberechtigte ausgezahlt. Das Geld für die Entschädigungen ist also da. Aber vielen ehemaligen Zwangsarbeitern fehlen noch immer die Beweise dafür, dass sie in Deutschland zur Arbeit gezwungen wurden. Wer keinen Entlassungsschein aus dem Lager und keinen Werksausweis der Fabrik mehr hat, muss deutsche Stellen bitten, nach Spuren zu suchen.

In Berlin war dafür das Landesarchiv zuständig. Das steckte mitten im Umzug, als die große Antragsflut begann. Also beschloss das Abgeordnetenhaus, im Landesverwaltungsamt am Fehrbelliner Platz 1 in Wilmersdorf die Koordinierungsstelle einzurichten. Die übernahm im Januar 2001 rund 1000 unbearbeitete Fälle vom Landesarchiv und bekam seitdem noch 7500 dazu. Die Hälfte sei abgearbeitet, sagt der stellvertretende Leiter der Koordinierungsstelle, Bernd Lehmann. In 50 Prozent konnte er einen positiven Bescheid an die Partnerorganisationen der deutschen Entschädigungs-Stiftung schicken.

Das sei das Schönste an ihrer Arbeit, sagt Mitarbeiterin Andrea Liebscher: Mit einer Liste mit 100 n und Geburtsdaten vor der alten Berliner Einwohnermeldekartei zu stehen, zu blättern und zu blättern – und plötzlich einen „Treffer“ zu haben. Alle Insassen der Berliner Lager wurden hier registriert, ihre Karten sind zumeist mit einem „Ost“ für Ostarbeiter oder einem „P“ für Polen gekennzeichnet. Aber nur ein Fünftel der Kartei blieb im Chaos bei Kriegsende erhalten. Trotzdem ist sie für die Koordinierungsstelle eine „Haupttrefferquelle“.

Von den großen Berliner Industriebetrieben verfügt Siemens über ein funktionierendes Altarchiv. Bei den meisten anderen Firmen sind die Unterlagen über die Beschäftigung von Zwangsarbeitern verloren gegangen. Nur knapp ein Drittel der positiven Bescheide der Koordinierungsstelle beruhen auf Archivfunden. Die Übrigen sind so genannte Plausibilitäts-Erklärungen. Die Ukrainerin Wera G., geboren 1920, könnte ein Fall für eine solche Erklärung werden. Ihre Anfrage wurde den Berliner Rechercheuren von der bundesweiten Koordinierungsstelle in Köln geschickt: „Gruenau, Rekattestraße 67, Gemüsefabrik“ lautet die Adresse der einen Arbeitsstelle, an die sie sich erinnern kann. Von der zweiten, als Fabrikarbeiterin in Mitte, weiß sie noch den Namen des Chefs. Dass es sich um die Regattastraße in Grünau handeln muss, ist schnell klar. „Wenn wir dann noch den Namen der Firma im alten Adressbuch finden und den Namen des Meisters im Telefonbuch, dann sagen wir, das muss einfach stimmen“, erklärt Lehmann.

Die Historiker, die schon in Heimatmuseen oder der Berliner Geschichtswerkstatt geforscht haben, können auch in komplizierteren Fällen helfen. Cord Pagenstecher erinnert sich an eine Ukrainerin, die schrieb, sie sei in „Fed Berlin, Feld Berlin“ im Gefängnis gewesen und habe dort in einer „Leinenfabrik“ gearbeitet. Sie bekam eine Plausibilitäts-Erklärung. 50 Kilometer von Berlin liegt Fehrbellin. Dort gab es ein Lager für Zwangsarbeiterinnen, die „diszipliniert“ werden sollten. Sie arbeiteten in einer Bastfaserfabrik.

Im Juni hatte die Koordinierungsstelle Besuch von einer Gruppe ehemaliger Zwangsarbeiter der Reichsbahn aus der Ukraine. Die alten Männer konnten ihre Nachweise gleich mitnehmen. Einige der Namen hatten sich in einer erhaltenen Reichsbahnkartei gefunden. „Die waren überhaupt nicht fordernd, die wirkten so dankbar“, wundert sich Bernd Lehmann noch heute. Es sei ihnen schwer zu vermitteln gewesen, „dass unsere Arbeit eine Selbstverständlichkeit ist“.

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