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Seit 51 Jahren sitzt Hans Kirschke in der JVA Tegel.

© Thilo Rückeis

Rekord in der JVA Tegel: 84-Jähriger sitzt seit 51 Jahren in Berliner Gefängnis

Für lebenslang Inhaftierte ist nach 15 Jahren eine Freilassung auf Bewährung möglich. Doch in der JVA Tegel sitzen viele schon deutlich länger.

„Lebenslang“, das sind doch nur 15 Jahre. So denken viele, und es ist doch falsch. Zahlreiche Männer sitzen seit Jahrzehnten ihre Haft in der JVA Tegel ab. Einer, Hans Kirschke, sitzt seit fast 51 Jahren. Kirschke (alle Namen geändert) ist Rekordhalter, am 19. Februar 1969 wurde er in Berlin festgenommen, da war er 34. Seitdem sitzt der mittlerweile 84-Jährige in Tegel.

Vor sieben Jahren hatte der heutige Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) die damals CDU-geführte Justizverwaltung nach „überlanger Inhaftierung“ gefragt. Drei Fälle nannte die Verwaltung in einer dürren Mitteilung. Der Tagesspiegel hatte das Schicksal dahinter öffentlich gemacht und Kirschke erstmals porträtiert.

Eines hat sich nicht geändert: Der Kindermörder möchte nicht in Freiheit, er lehnt jede Begutachtung ab, die ist aber Voraussetzung für eine Freiheit. Und der Rest einer lebenslänglichen Strafe kann nur zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn der Verurteilte einwilligt.

Ganz anders Heinz-Jochen Frühling. Er wollte immer raus. Und saß doch 41 Jahre. Die Justiz bestätigte jetzt Informationen vom Mitgefangenen, dass Frühling im vergangenen Jahr entlassen wurde. In der Antwort zu Behrendts Anfrage war Frühling damals die Nummer 3 auf der Liste: „Zweifacher Mord, Gefangenenmeuterei“, nannte die Justiz damals.

Anders als Kirschke hat Frühling auch während der Haftzeit Schlagzeilen gemacht. 1980, zwei Jahre nach seiner Inhaftierung, floh Frühling aus Tegel, filmreif, mit nachgemachten Schlüsseln und durchgesägten Gittern. Nach und nach waren mehrere knastinterne Schlampereien bekannt geworden, die die Flucht erleichterten und den damaligen Justizsenator Gerhard Meyer (FDP) in Bedrängnis brachten.

Heinz-Jochen Frühling wollte immer raus – saß 41 Jahre

Der Fall wurde sogar im Justizausschuss des Abgeordnetenhauses besprochen. Weil der Gefangene eine Art Abschiedsbrief mit Grüßen an seine „Schüler“ in der JVA hinterlassen hatte, wurde ihm die Flucht als „Gefangenenmeuterei“ ausgelegt. Im November 1980 erhielt er sechs Monate Strafe obendrauf, „Nachschlag“ wie es im Tegeler Jargon heißt.

Das „lebenslang“ hatte Frühling für seinen zweiten Mord kassiert. Für 2000 D-Mark Beute hatte der damals 26-Jährige in seinem eigenen Wohnhaus in Moabit eine 86-Jährige erschlagen. Das Urteil lautete damals aber auch auf „besondere Schwere der Schuld“, was die juristisch frühest mögliche Freilassung nach 15 Jahren verbietet.

25 Jahre bei besonders schwerer Schuld

Die Feststellung der „Schwere der Schuld“ verlängert die Mindesthaftdauer auf etwa 25 Jahre. Von seinem ersten Mordurteil, eine Sexualtat an einer früheren Mitschülerin, hatte Frühling nur sechs der zehn Jahre Jugendstrafe verbüßen müssen. Diese vier Jahre musste er in Tegel nachsitzen – und dann gab es keine gute Prognose, die für eine Entlassung erforderlich ist. Und so dauerte es bis 2019, bis Frühling wieder in Freiheit kam.

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Im Schnitt dauert lebenslang nach Angaben des Bundesjustizministeriums in Deutschland etwa 20 Jahre. Ein Jahr vor dem zweiten Mord, nämlich 1977, hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass „lebenslang“ gegen das Rechtsstaatsprinzip und die Menschenwürde verstößt, wenn der Gefangene keine Chance zur Entlassung hat außer der Begnadigung.

Der älteste Gefangene wird im Juli 87 Jahre alt

Einem Verurteilten müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, irgendwann die Freiheit wiederzuerlangen, so der Tenor damals. Vier Jahre später, 1981, reagierte der Gesetzgeber und führte die Frist von 15 Jahren ein, ab der eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Aber nicht muss. Karlsruhe hatte damals auch festgestellt, dass lebenslange Haft nicht prinzipiell gegen die Menschenwürde verstößt.

In Tegel hatte Heinz-Jochen Frühling lange in der Gefängnisgärtnerei gearbeitet. „Man fühlt sich nach so langer Zeit nicht mehr eingeschlossen“, hatte er im April 2011 in einem Interview gesagt. „Ich habe natürlich das Bestreben so schnell wie möglich diese Anstalt zu verlassen“, sagte er damals weiter – und schob nach: „als freier Mensch.“

Der älteste Gefangene nach Lebensjahren ist Willy Kohl, er wird im Juli 87 Jahre alt. Er war zuletzt 2009 verurteilt worden, nämlich zu sieben Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung, immer wegen Kindesmissbrauchs.

„Altersschwache gehören ins Heim, nicht in den Knast“, das hatte der heutige Justizsenator Dirk Behrendt als grüner Abgeordneter mal im Rechtsausschuss gesagt. Eine spezielle Abteilung für alte Gefangene gibt es weiterhin nicht in Berlin. Kirschke sitzt mit 84 Jahren weiter in Haus 5 in Tegel.

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