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Berlin: Richard Drewnicki (Geb. 1925)

Mutter Deutsche, Vater Pole. Und er? Mal so, mal so. Je nachdem

Die Boxkarriere begann auf dem Schulhof. Richard, bzw. Ryszard, verteidigte sich gegen seine katholischen Schulkameraden. Er war der einzige Protestant. Die Resultate waren ermutigend. Ryszard fing an, im Verein zu boxen, heimlich, weil die Mutter dagegen war. So sehr, dass sie die Boxhandschuhe ihres Sohnes verbrannte. Eine verheerende Niederlage. Gegen seine Mutter konnte sich Ryszard nicht durchsetzen. Es fehlte der Vater an seiner Seite, der war früh gestorben.

Ryszard sprach polnisch, lebte in Bialystock, Polen. Die Stadt war auch mal preußisch, dann russisch, wieder polnisch, wieder russisch, dann nazideutsch und wieder polnisch. Ryszards Mutter war Deutsche, sein Vater Pole. Und er? Mal so, mal so. Je nachdem. Gesungen hat er, wenn er denn sang, polnische Lieder.

Im September 1939 eroberte die Wehrmacht Bialystock. Weil Hitler mit Stalin paktierte, wurde die Provinz den Sowjets überlassen. Im Juli 1941 kam die Wehrmacht ein zweites Mal und blieb länger. Ryszard wurde zum Reichsdeutschen erklärt, beendete die Volksschule und musste sich entscheiden: Wehrmacht oder Reichsarbeitsdienst. Für Ryszard, neuerdings Richard, klang das übersetzt: kämpfen oder arbeiten. Einem 16-jährigen Ex-Boxer fällt diese Entscheidung nicht schwer.

Unter den Kameraden beim Militär war der Reichsdeutsche Richard fortan der Pole. Mit einigem Recht: Er sprach nur wenige Worte Deutsch, lief links herum, wenn der Kompaniechef rechtsrum brüllte. Dagegen half nur Lesen. Zeitungen, Bücher, egal was. Richard ging nie wieder auf eine Schule, brachte sich alles selbst bei. Jahre später, als er in der neuen Heimat Englisch lernen musste, ging er oft den ganzen Tag ins Kino. Immer wieder in denselben Film.

An der Ostfront erfroren ihm Ohren und Zehen. Er kam ins Lazarett und anschließend nach Frankreich, Normandie, zur Erholung. Wenig später begann die alliierte Invasion. Richard musste wieder den Karabiner umschnallen, doch die Übermacht der Feinde ließ ihn bald erkennen: Kämpfen ist sinnlos. Mit einem Kameraden ging er den Engländern entgegen und ließ sich gefangen nehmen. Auf jeden Fall wollte er zu den Engländern, darauf hatte der Pole in ihm bestanden. In London saß die polnische Exilregierung.

Richard wurde wieder zu Ryszard. Von Gefangenschaft war bald keine Rede mehr, Ryszard wurde nach Italien verlegt, zur geheim operierenden polnischen Anders-Armee. Die hatte unter hohen Verlusten mitgeholfen, die Deutschen aus Italien zu vertreiben und wartete nach Kriegsende auf neue Befehle. Aber die kamen nicht. 1946 wurde er nach Schottland beordert und schließlich aus der Armee entlassen.

Beim Militär hatte er die Boxhandschuhe wieder angezogen und sich viel Anerkennung verschafft. Auch außerhalb der Armee nährte das Boxen seinen Mann, brachte Ruhm und die Zuneigung weiblicher Fans. Eine davon wurde seine Frau. Es kamen zwei Söhne, das Geld reichte bald für ein Haus, das Glück schien perfekt. Bis Ryszard, bzw. Dicky Drew, wie er sich im Boxring nannte, seine Mutter nach England holte. Mit ihr im Haus, die kein Englisch sprach, aber viel Aufmerksamkeit beanspruchte, kühlte sich die Liebe schnell ab. Die Ehe zerbrach, um die Kinder wurde juristisch gerungen, überdies brannte auch noch das Haus aus. Dicky überlegte, nach Australien auszuwandern, doch seine Mutter war dagegen. Also ging er mit ihr nach Berlin. Die Söhne und das Boxen ließ er zurück.

Nun also wieder Richard Drewnicki, der mit dem starken polnischen Akzent. Oder ist es ein englischer? Seine Kollegen in den Lagerhallen vom Westhafen machen ihre Witze, aber sie sind auch gute Kumpels, mit denen man nach der Arbeit trinken gehen kann. Schuten ausladen, Säcke schleppen, ein Malocherjob, bei dem nicht viel zu gewinnen ist.

Er gründet eine zweite Familie, wieder kommen zwei Söhne. Richard strengt sich an, damit es der Familie an nichts fehlt. Über Beziehungen bekommt er einen Job als Sachbearbeiter bei der AOK. Doch die Kollegen grenzen ihn aus, den Ungelernten mit dem schlechten Deutsch. Das ist der Preis für den Aufstieg, sagt er sich und beißt die Zähne zusammen. Es geht im Leben nicht darum, möglichst viel Spaß zu haben, sondern am Ende zu gewinnen. Beim Brettspiel mit der Familie konzentriert er sich auf die Spielzüge statt auf das gesellige Drumherum.

Als er zu dick wird vom fetten Essen und dem Mangel an Bewegung, fängt er mit dem Laufen an. Das Gefühl, den inneren Schweinehund niederzuringen, macht süchtig. Richard trainiert jeden Tag, hat bald eine asketische Figur, wird Vegetarier und Marathonläufer. Immer gegen die Uhr und gegen den Schmerz. Dann versucht er sich im Extremsport. 100-Kilometer-Lauf. Schafft er auch, dritter Platz unter den Über-65-Jährigen. Sein Schweinehund hat aufgegeben.

Als er schon lange Rentner ist, kommt ein Brief aus England. Paul, sein Sohn, fragt an, ob Richard sein Vater sei. Von da an sehen sie sich regelmäßig. Sean, der jüngere Sohn, will keinen Kontakt.

Jahrzehntelang hat Richard nicht mehr gesungen, als er eines Morgens am Frühstückstisch wieder anfängt. Lieder aus der polnischen Kinderzeit, die niemand versteht. Unaufhörlich löscht sein Gedächtnis die Erinnerungen aus seinem Leben, von der frühen Vergangenheit an abwärts. Als er 89 ist, kann er das Alter nicht fassen. Was ist denn in all den Jahren passiert? Ans Boxen erinnert er sich bis zuletzt: „Hab’ so viel auf den Kopp gekriegt.“

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