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Berlin: Richard Perlia wurde 1935 Testpilot bei der Deutschen Luftfahrtversuchsanstalt in Berlin-Adlershof

Wenn sich ein Jahrhundert neigt, haben Erinnerungen Konjunktur. Oft berichten nur die "Profis" der Geschichte: Wissenschaftler, Künstler oder Generäle.

Wenn sich ein Jahrhundert neigt, haben Erinnerungen Konjunktur. Oft berichten nur die "Profis" der Geschichte: Wissenschaftler, Künstler oder Generäle. In der Tagesspiegel-Serie "Mein Jahrhundert" dagegen kommen Berliner und Berlinerinnen zu Wort, die aus der sonst üblichen Memoiren-Perspektive häufig nur am Rande registriert werden, in deren Erlebnissen sich aber die "große Geschichte" spiegelt. Kurz, es werden Momente geschildert, in denen sich Welt- und Alltagsgeschichte kreuzten

Viele Gesprächspartner hat uns die Berliner "Zeitzeugenbörse" vermittelt, die diese Alltagserfahrungen früherer Jahre dokumentiert. Die "Zeitzeugenbörse" sucht neue Mitstreitern - wer Interessantes erlebt hat, kann sich unter der Rufnummer 44 04 63 78 melden.

"Meine Eltern hatten in Aachen ein Haus am Stadtrand, nicht weit vom Flugplatz Brand. Als kleiner Junge - geboren wurde ich im Jahre 1905 - staunte ich über die "fliegenden Kisten", die in 50 Meter Höhe über unser Grundstück hinwegbrausten. Eines Tages ging ich mit meinem Bruder zum Flugtag nach Brand. Einer der Kunstflugpiloten verunglückte tödlich, nachdem eine Windböe sein Flugzeug erfasst hatte. Ich altkluger Knirps sagte zu meinem Bruder: "Wenn es weitergeht mit der Fliegerei, wird das nicht mehr passieren". Von diesem Tag an sagte ich allen: "Ich will Pilot werden."

Meine Mutter hatte vollkommen andere Pläne für mich. Sie war erzkatholisch und wollte endlich einen Priester in der Familie haben. Nach dem frühen Tode meines Vaters steckte sie mich ins Benediktinerkloster nach Maria Laach. Mein schönster Tag dort war der Tag, an dem ich aus dem Orden rausgeschmissen wurde. Ein Freund - und Leidensgenosse - und ich hatten bei einem Spaziergang in Zivilkleidung zwei Mädchen kennen gelernt, die in Maria Laach auf Urlaub waren. Ein nächtlicher Besuch in ihrem Hotelzimmer kam unseren Patres zu Ohren. So flogen wir denn raus. Zu Hause in Aachen sagte ich meiner Mutter: "Als Flieger bin ich dem Himmel näher, denn als Priester." Endlich erklärte sie sich bereit, mir meine Piloten-Ausbildung zu finanzieren. Ich ging sofort nach Böblingen in die Fliegerschule der Klemm-Werke. Später, nachdem ich alle damals erforderlichen Flugscheine - inklusive Kunstflugschein - gemacht hatte, wurde ich dort sogar Werkspilot.

Nach Berlin kam ich 1935. Inzwischen arbeitete ich nicht mehr bei Klemm, sondern als Fluglehrer im Kölner Raum. Ich verdiente 175 Mark im Monat. Das war kein schlechtes Gehalt, aber ich wusste, dass ich mehr erreichen konnte. Ich galt überall als großes Flugtalent. Als Werkspilot hatte ich schon in den 20er Jahren Ernst Udet, den großen Weltkriegsflieger, kennen gelernt. Damals sagte Udet, "den Perlia muss man sich merken". 1935 wollte ich als Testpilot zur Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin-Adlershof. Ich bekam von Udet, der schon von Göring zum "Generalluftzeugmeister" gemacht worden war, eine Empfehlung. Ich wurde sofort mit 430 Mark Anfangsgehalt eingestellt.

In Adlershof war es meine Aufgabe, die Prototypen neu entwickelter Flugzeuge zu testen und "abzunehmen". Bei der Prüfung für den sogenannten "Lufttüchtigkeitsschein" des ersten Verkehrsflugzeuges von Heinkel - im Volksmund Heinkel Blitz - musste ich einen Senkrechtsturz aus 4000 Meter Höhe auf 1500 Meter abfangen. Es ging darum, die Bruchlast auszutesten. Solche Experimente gingen an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit. Ich hatte bei alledem nie das Gefühl, der Flugzeugtechnik ausgeliefert zu sein. Man war ja jung damals und dachte, es wird schon gutgehen. Ich wollte fliegen um jeden Preis - und ich hatte oft unglaubliches Glück. Außerdem war ich eben auch Kunstflieger. Als ich wieder einmal einen Fallschirm testete, verfingen sich die 75 Kilogramm schwere Puppe und der Schirm im Leitwerk. Ich hatte meinen beinahe sicheren Absturz vor Augen. Indem ich aber alle möglichen Kunstflugfiguren vollführte, wurde ich die Puppe los und schaffte eine glatte Landung.

Mein wohl brisantester Auftrag waren die Testflüge mit dem Flettner-Hubschrauber FL 265. 1939 war ich von der Luftfahrt-Versuchsanstalt zu den Flettner-Werken nach Berlin-Johannisthal gewechselt. Die Entwicklung des FL 265, des ersten deutschen Hubschraubers, hatte schon 1928 begonnen. Aber als ich in die Entwicklung einstieg, hatte er noch immer keine Autorotation. Bei Motorstillstand konnte man die Rotoren noch nicht abkuppeln, und nach dem Trägheitsgesetz brachen sie sofort ab.

Am 3. Juli 1939 musste ich den Flettner-Hubschrauber auf der Luftfahrterprobungsstelle in Rechlin vor Hitler und seinem Stab vorführen. Auch Göring, Goebbels, Rommel und mein alter Bekannter Ernst Udet waren dabei, außerdem Vertreter ausländischer Regierungen und Armeen. Es ging darum, dem Ausland die Stärke der deutschen Luftwaffe vorzuführen. Wir Piloten gaben natürlich unser Bestes, aber wir wussten, dass das alles nur Prototypen waren, die es nur in einem einzigen Exemplar gab.

Ich führte also den Flettner-Hubschrauber vor. Das dauerte zwei Minuten. Der Höhepunkt war ein Stillstand in 100 Meter Höhe. Ich war oben mit dieser nicht ganz ausgereiften Technik, und unter mir stand praktisch die gesamte Reichsregierung. Nach meiner Landung winkte Hitler mich zu sich heran. Er fragte: "Hat der Hubschrauber Autorotation?" Den Begriff musste ihm Udet gerade eben erklärt haben. Ich verneinte, woraufhin Hitler wissen wollte, was passiere, wenn der Motor stehenbleibe. Mich ritt der Teufel: "Man fällt runter wie ein Klavier aus dem vierten Stock." Das war unser Fliegerjargon. Hitler grinste und wandte sich ab. Ein paar Minuten später kamen zwei SS-Männer auf mich zu. "Sie haben den Führer auf das Höchste gefährdet", blafften die mich an. Die Sache hatte keine Folgen, blieb mir aber tief ins Gedächtnis eingegraben.

Ich habe immer wieder Kollegen verloren. Anfang der 40er Jahre verunglückte mein Kamerad Graf Rességuier de Morliment mit einem Wasserflugzeug von Arado. Ich war mittlerweile "Einflieger" bei Arado, dem berühmten Flugzeugwerk, das Graf Zeppelin bereits 1912 gegründet hatte. Graf de Morlimentstürzte beim Vorführen des Flugzeuges am Plauer See vor einer chilenischen Kommission ab, die mehrere Exemplare kaufen wollte. Es passierte bei einer Kunstflug-Einlage. Ich sah mit Entsetzen, wie er dazu ansetzte, obwohl er wissen musste, dass dieser Typ nicht für Kunstflüge konstruiert war. Zehn Minuten zuvor war ich selbst noch damit geflogen.

Nach Kriegsende war den deutschen Piloten das Fliegen verboten. Erst 1956 erhielten wir die Lufthoheit wieder, und so machte ich in der Schweiz meinen Führerschein, mit dem ich noch bis zu meinem 78. Lebensjahr geflogen bin. Nun werde ich mit fast 95 Jahren wie ein lebendes Denkmal herumgereicht und -geflogen und erinnere mich an die wunderbare Zeit, in der ich dem Himmel immer so nah war."Richard Perlia hat ein Buch über sein Leben geschrieben. Der bebilderte Band "In geheimer Mission" kann beim Autor bestellt werden (Bismarckalle 50, 14193 Berlin; Telefon: 826 42 42)

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