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Richard von Weizsäcker: Ein ganzer Staatsmann für eine halbe Stadt

Richard von Weizsäcker regierte West-Berlin nur 32 Monate – und prägte eine Ära. Er verlieh der Stadt neue Strahlkraft und empfahl sich für höhere Aufgaben. Heute wird er 90 Jahre alt.

Richard von Weizsäcker sagte über seine Zeit als Regierender Bürgermeister, sie sei für ihn „menschlich und politisch von schlechthin prägender Kraft“ gewesen. Doch auch er selbst war von prägender Kraft für diese Stadt wie kein anderer, ausgenommen Ernst Reuter und Willy Brandt. Er regierte nur 32 Monate lang, von Juni 1981 bis Februar 1984, aber es wurde die „Ära Weizsäcker“. Berlin erhielt durch ihn wieder Strahlkraft.

Alles war außer Rand und Band, als er das Amt antrat, das er als nationale Aufgabe empfand. Schwere innere Krisen waren zu meistern, und er verstand es kraft seiner natürlichen Autorität, in aller Distanz widerstrebende Gruppen an sich zu ziehen, bei Bürgern Zuversicht zu erzeugen, der Stimme Berlins wieder Gewicht zu geben. Ein neuer Stil machte sich bemerkbar. Konsens war sein Credo, Parteipolitik unvermeidliche Nebensache, CDU-Chef musste er schon sein. Er kam aus Bonn in die vertraute Stadt seiner Kindheit und Jugend. Notfalls kann er sogar berlinern, eine Waffe, die er pädagogisch einsetzte, als ihn der Aussteiger-Kabarettist Wolfgang Neuss in einer Talkshow mit Titulierungen wie „Richie“ und „König von Berlin“ nervte: „Nu hör doch ma’ uff!“ Neuss war baff.

Dabei war es keineswegs so, dass Weizsäcker kam, sah und siegte. Schon im Wahlkampf 1979 war er Spitzenkandidat, aber noch war die sozialliberale Festung Berlin nicht zu schleifen. Das änderte sich schneller als gedacht. Querelen in der SPD, Querelen in der FDP, Filz-Affären, steigende Arbeitslosigkeit, Ausländerprobleme, Wohnungsnot, Hausbesetzer – der Bauskandal um den pleite gegangenen Architekten Dietrich Garski war schließlich der zündende Funke. Dem Sozialdemokraten Dietrich Stobbe missglückte die Senatsumbildung, gleich vier Senatoren fielen bei der Wahl durch. So begann das turbulente „Drei-Bürgermeister-Jahr“ 1981.

Die SPD rief Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel als Feuerwehr, doch ehe er die Brandherde löschen konnte, trat Weizsäcker mit einem Überraschungscoup ins Bild. Ein Blick in die Berliner Verfassung genügte, um Unterschriftensammlungen für ein Volksbegehren zur Auflösung des Abgeordnetenhauses zu initiieren. Weizsäcker unterschrieb auch bei den Bürgerschrecks von der Alternativen Liste, werbewirksam vor dem Rathaus Schöneberg. In Windeseile kamen 250 000 Unterschriften zusammen, so- dass Vogel selbst Neuwahlen verkündete. Es war ein vornehmer Zweikampf. Locker reimte Weizsäcker: „Ein Wahlwettlauf auf Schimpf- und Mogelfüßen? Den muss Berlin bei mir und Vogel missen.“

Gewitzt fertigte er schon im Wahlkampf 1979 den Bundeskanzler ab, der ihn, noch ganz „Schmidt-Schnauze“ einen „Klops“ nannte, „nicht Fisch, nicht Fleisch“. Vergnügt belehrte ihn Weizsäcker, in Berlin gebe es nur Buletten, aber ein Klops sei den Berlinern lieber als ein „Hamburger“.

Am 10. Mai errang die CDU mit 48 Prozent ihren größten Wahlsieg, nur zwei Stimmen fehlten zur Mehrheit im Parlament. Weizsäcker verlangte für seinen Minderheitssenat die „kritisch-konstruktive“ Zuarbeit aller als Bringschuld. Auf vier, fünf Stimmen der zerrissenen siebenköpfigen FDP-Fraktion konnte er zählen. Dennoch ging die Senatswahl nicht ohne Malheur ab. Wirtschaftssenator Elmar Pieroth schaffte es erst im zweiten Wahlgang. Die CDU gab zu, dass einige gezündelt haben könnten, denn „Häuptling Silberlocke“ brachte vier der elf Senatoren aus seiner früheren politischen Heimat Rheinland-Pfalz mit. Norbert Blüm, Hanna-Renate Laurien, Ulf Fink und Pieroth hätten klangvolle Namen, aber doch keinen Berliner Stallgeruch, wurde gemault.

Weizsäcker umwarb alle, er sah Politik auch als Erziehungsaufgabe. Mit der Berufung der ersten Ausländerbeauftragten, Barbara John, setzte er ein Signal. Er ließ zwei Staatssekretäre der SPD im Amt, einer seiner neuen Redenschreiber hatte das SPD-Parteibuch. Sozialsenator Fink und Stadtentwicklungssenator Hassemer durften mit der erstmals im Parlament vertretenen AL flirten. Kam sie nicht mit ihrem Selbsthilfeprinzip dem Subsidiaritätsprinzip nahe?

Die Vogel’sche Linie im Umgang mit den Hausbesetzern setzte Weizsäcker „mit besonnener Konsequenz“ fort: Räumung nur bei Strafantrag und neuer Nutzung. Nur duldete man keine Neubesetzungen mehr. Innensenator Heinrich Lummer stand für Polizeihärte, Bausenator Ulrich Rastemborski für Dialog und Instandbesetzungsverträge. Gewiss, fürs Erste eskalierte die Randale, als Lummer in Napoleon-Pose bei der Räumung eines Hauses auftrat und der 18-jährige Klaus Jürgen Rattay bei einer Demo unter einen BVG-Bus geriet und zu Tode kam. Nun rief Weizsäcker Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Parteien an den Runden Tisch, „Wege zum sozialen Frieden“ zu erkunden. Das Hausbesetzerproblem wurde gelöst, der Bausenator zerbrach an den Spannungen und trat 1983 zurück.

Weizsäcker stand über den Dingen, ein Stadt-Präsident. Stets wirkte er so gelassen, als könne er alles mit leichter Hand regeln. Man begegnete ihm im Theater oder Konzert, auch in Ost-Berlin. Er nahm sich Zeit, an Reden zu feilen. Seine Ehrenämter in der Evangelischen Kirche nutzte er für Auftritte in der DDR. So zeigte er, wie wichtig das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen war. Ganz selbstverständlich hielt er eine Rede in der Stadtkirche von Wittenberg, 10 000 Menschen lauschten ihm draußen auf dem Platz.

Mit diskreter Diplomatie erreichte er seine Ziele. Sein überraschendes Treffen mit Erich Honecker 1983 in Ost-Berlin illustriert es. Den Alliierten hat er vorher „Bescheid gesagt“, er hat sie nicht gefragt. Bei der Rückkehr vom Schloss Niederschönhausen stellte er schlicht fest, er sei „als deutscher Politiker“ bei Honecker gewesen, der Viermächte-Status bleibe davon unberührt; darin stimme er mit Honecker überein, Punkt.

Kaum war endlich im März 1983 aus dem Tolerierungspartner FDP der Koalitionspartner geworden, tauchten die ersten Hinweise auf, er wolle Bundespräsident werden. Da war Vogel längst als SPD-Kanzlerkandidat nach Bonn entflogen. Helmut Kohl zögerte, Weizsäcker drängte auf seine unnachahmliche Art zur Entscheidung der „Frage“. Beim Fußballspiel Deutschland – Türkei im Olympiastadion trat der Zwist zutage: Kohl und Weizsäcker nebeneinander auf der Ehrentribüne, nach kurzem Wortwechsel einander herzlich abgewandt. Tagelang analysierten Politiker und Journalisten mit Lust ihre Fernseh-Mienen.

Berlin sei seine „Lebensaufgabe“, hatte Weizsäcker 1981 erklärt. Alles reagierte hörbar enttäuscht, als er ging, blanke Wut entlud sich auf einem CDU-Parteitag. Das war bald verschmerzt. Er hinterließ ja ein Erbe, das der Stadt guttat, sein Nachfolger Eberhard Diepgen konnte lange davon zehren. Und noch vor der Einheit wurde er am 30. Juni 1990 der erste Ehrenbürger Gesamtberlins.

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