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Berlin: Riefenstahls Rinne

Die Stiftung Warentest hat den Reportergraben des Olympiastadions als Sicherheitsrisiko entdeckt. Einen Schacht, der für Hitlers Regisseurin gebaut wurde und später als Hindernis für Fans gelegen kam

Es gibt im umgebauten Olympiastadion einige Merkwürdigkeiten: eine Treppe, die im Nichts endet und unter Denkmalschutz steht, einen Schacht, dessen Nutzen niemand klar ist. Seit kurzem nun ist die Öffentlichkeit informiert über die Existenz eines Reportergrabens. Die Stiftung Warentest macht ihn verantwortlich für die schlechte Beurteilung, die sie dem Olympiastadion beim Sicherheits- check vor der Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Jahr gegeben hat. Im Falle einer Paniksituation würde der Graben die Flucht der Zuschauer auf das Spielfeld verhindern. Die ortskundigen Reporter haben sich darüber ein wenig gewundert, denn sie haben in diesem Graben noch nie einen Reporter gesehen. Und ein Reportergraben ohne Reporter ist nun mal kein Reportergraben, sondern nur ein Graben.

Das ist richtig beobachtet, aber historisch zu kurz gegriffen. Der Reportergraben des Olympiastadions ist so etwas wie Adolf Hitlers Geschenk an Leni Riefenstahl. So wie Albert Speer der Architekt des „Führers“ war, war Leni Riefenstahl seine Regisseurin. 1933 und 1934 hatte sie mit den Filmen „Sieg des Glaubens“ und Triumph des Willens“ die Reichsparteitage der NSDAP in Szene gesetzt, 1936 sollte sie Ähnliches bei den Olympischen Spielen leisten.

Für Riefenstahls Olympiaprojekt war nichts zu teuer. Unterwasser-, Schienen- und Ballonkameras wurden entwickelt, das Stadion erhielt versenkte Durchgänge für Techniker und Kameras – und den Reportergraben, eine 1,8 Meter breite und 2,5 Meter tiefe Einlassung rund um die Laufbahn, die damals noch aus Asche war. Im Graben platzierte die Regisseurin ihre Kameraleute. Direkt unter der Ehrenloge ließ Frau Riefenstahl das Ikonoskop aufbauen, die erste elektronische Kamera, die ohne eine rotierende Scheibe auskam.

Das Ikonoskop war ein mannshohes Etwas, das sich nicht so recht in die Ästhetik des Stadions fügen wollte. Werner March, der Baumeister des Olympiastadions, hatte sich lange gegen das Ikonoskop gewehrt, doch Joseph Goebbels mochte sich nicht davon abbringen lassen. Sein Propaganda-Ministerium finanzierte das Filmprojekt mit 1,5 Millionen Reichsmark, allein 250 000 Mark davon gingen an die Regisseurin. Leni Riefenstahl traktierte das in Filmfragen noch unbedarfte Internationale Olympische Komitee (IOC) mit immer neuen Forderungen: Hinter der Wurfanlage plante sie vier Kameratürme, zudem sollten die Athleten aus Gruben gefilmt werden. Auf der 100-Meter-Sprintstrecke wollte sie Kameras auf Gleitschienen mitlaufen lassen, das Finale der Ruderer aus einem Fesselballon aufnehmen. Im Schwimmstadion sollten die Turmspringer beim Eintauchen von Unterwasserkameras verfolgt werden. Das IOC ließ vieles durchgehen und verweigerte sich erst bei den Gleitkameras, weil sie angeblich die Konzentration der Läufer beeinflussten.

Leni Riefenstahl versammelte 80 Kameraleute und -assisenten und ging mit ihnen zwei Monate vor den Spielen ins Trainingslager. Die umfangreiche Vorbereitung lohnte sich. Aus dem Reportergraben fingen die Regisseure eindrucksvolle Bilder ein. Auch solche, die ihren Auftraggebern gar nicht gefielen, etwa die Konzentration und Muskelanspannung des Wundersprinters Jesse Owens. Der US-Amerikaner gewann in Berlin vier Goldmedaillen. In das Weltbild der Nazis aber passte ein schwarzer Sportheld nicht.

Nach Beendigung der Spiele brachte Leni Riefenstahl zwei Jahre im Schneideraum zu. Heraus kamen die beiden Olympiafilme „Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“, denen trotz aller ideologischer Synergie-Effekte ein bis heute andauernder Erfolg beschieden ist. Allein 1938 gewann Leni Riefenstahl erste Preise bei den Festivals in Venedig und San Remo, den schwedischen Polar-Preis und das Olympische Diplom des IOC. 1956 sprach eine Jury in Hollywood ihren beiden Olympiafilmen einen Platz unter den zehn besten Filmen der Welt zu.

Der Reportergraben war 1936 die Basis für die Weltpremiere der Fernsehübertragungen bei Olympischen Spielen. Da Fernsehapparate damals in Privathaushalten die Ausnahme waren, ließ das Propaganda-Ministerium auf dem nahen Messegelände und in Berlins Stadtzentrum an der Leipziger Straße Geräte mit einer Bildröhre von ein mal 1,2 Metern für die Öffentlichkeit aufstellen. Dazu wurde eine Hand voll Fernsehstuben mit kleineren Apparaten eingerichtet. Berlin erlebte im Sommer 1936 also auch die Geburtsstunde des „public viewing“.

Nach dem Krieg wurden große Teile des Olympiastadions unter Denkmalschutz gestellt, so auch der Reportergraben – auch wenn sich dort schon lange keine Reporter mehr aufhielten. Fortan diente er als Barriere für den sich entwickelnden Typus des Sportfans, der gern auch mal das Spielfeld stürmt.

Zur Fußball-Weltmeisterschaft 1974 erhielt der Graben an der zur Laufbahn gewandten Seite einen Plexiglaswall. Als einzige WM-Arena musste das Olympiastadion damals nicht mit einem Gitterzaun nachgerüstet werden. Beim Stadion-Umbau wurde der Graben auseinander genommen, abgesenkt, und wieder zusammengesetzt. Peter Schließer kann sich aus den 31 Jahren als Chef des Stadions an keinen Fall erinnern, da es mit dem Graben ein Problem gegeben hätte. Dieser Fall trat erst ein paar Wochen nach Schließers Pensionierung ein, im November 2004. Damals bejubelte ein Fan von Hertha BSC so ausgelassen ein Tor gegen Werder Bremen, dass er in den Reportergraben stürzte. Der Mann kam mit dem Schrecken und ein paar Prellungen davon.

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