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Berlin: Rios Revival

Kreuzberg ist wieder angesagt. Wer nicht nach Mitte oder Prenzlauer Berg zog, avanciert erneut zur Avantgarde. Auch die Songs von „Ton, Steine, Scherben“ sind immer noch da. Und das „Festival Musik und Politik“ feiert das Berlin der 80er

Wer etwas über Kreuzberger Rebellen erfahren will, der fährt am besten nach Lichterfelde West. Ausgerechnet dort, wohin sich zu Hausbesetzerzeiten wohl kein Sponti freiwillig begeben hätte, betreibt Gert Möbius zwischen Kanzleien und Boutiquen ein Archiv. Es hortet Dokumente aus den wilden Jahren am Mariannenplatz – und verwahrt den Nachlass seines Bruders Rio Reiser. Regen Zulauf habe er in letzter Zeit, erzählt Möbius. Wissenschaftler, Fernsehteams, einfache Leute kommen, um über die Kinderladenbewegung zu forschen.

Denn Kreuzberg kehrt wieder. Nicht nur ins Kino, mit Büchern wie Sven Regeners „Herr Lehmann" – Leander Haußmann hat es gerade mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmt. Auch Kreuzberg selbst belebt sich neu. Ein Luftzug weht durch die Oranienstraße und über den Mariannenplatz, wo vor Jahren noch Flaute herrschte, weil die Szene nach Osten aufgebrochen war. „Da tut sich was", bekräftigt Möbius. „Es ist so, als würde man auf einem Stromkabel stehen, so, als könnte jederzeit etwas passieren."

Auch die Veranstalter des alljährlichen „Festivals Musik und Politik" scheinen den teils nostalgischen, teils realen Trend bemerkt zu haben und stellen ihre Veranstaltung diesmal unter den Schwerpunkt „Ostberlin - Westberlin. Musik und Politik in den 70er, 80er Jahren". Gert Möbius nimmt heute an einem Podiumsgespräch teil, das Bilanz ziehen soll über jene vergangenen Zeiten, als Musik politisch, ja eine „Waffe" war, wie es in der Ankündigung heißt. Möbius kann damit so recht nichts anfangen, er hält wenig von rein politischen Gruppen. Der legendäre „Rauch-Haus-Song" der Band Ton, Steine, Scherben – bis heute Standardrepertoire auf Demos – sei eben direkt mit einer Aktion verbunden gewesen: „Wir hatten das Rauch-Haus ja 1971 wirklich besetzt." Sein Bruder Rio habe im Krankenhaus Bethanien, dem besagten „Georg von Rauch-Haus", mit Jugendlichen zusammengewohnt, sich ihre Sprüche für seine Texte notiert. Vor allem habe er mit den Menschen, nicht über sie Musik gemacht. Daher komme die Kraft, die Songs wie „Keine Macht für niemand" noch immer verströmten.

Wäre Rio Reiser auch bei der Friedensdemo am vorigen Sonnabend aufgetreten? „Aber klar", sagt Gert Möbius schnell, fast beschwörend. Ihn wundert, warum nur die alte Garde dort aufgetreten ist, Hannes Wader etwa, Reinhard Mey und Konstantin Wecker. Möbius hätte sich auch Jüngere auf die Bühne gewünscht, die Söhne Mannheims zum Beispiel oder vielleicht Sven Regeners Element of Crime. „Nena und Grönemeyer hätten sicher gespielt, die waren doch alle zur Echo-Verleihung in der Stadt!"

Dieter Süverkrüp, Barbara Thalheim, Hans-Eckardt Wenzel – gestanden sind auch die Interpreten beim „Festival Musik und Politik", das 1970 in Ost-Berlin als „Festival des politischen Liedes" begann und die Wende unter neuem Namen überdauerte. „Angestaubt", nennt es Christiane Rösinger, die im vorigen Jahr ebenfalls dort aufgetreten ist. „Das sind ältere Herrschaften, die sich beklagen, dass alles weniger radikal ist als früher." Rösinger kam 1986 aus der badischen Provinz nach Kreuzberg, spielte jahrelang bei den „Lassie Singers" und inzwischen bei „Britta". Skeptisch betrachtet sie die Verklärung Kreuzbergs, freut sich aber zugleich über die Renaissance ihres Bezirkes. „Junge Leute ziehen wieder her. 1996 saßen in den Kneipen nur Übriggebliebene beim Rotwein. Jetzt sind die Künstler wieder da."

Seit 14 Jahren wohnt Christiane Rösinger in der Pücklerstraße nah der Markthalle, im Revier des „Herrn Lehmann" also. Indem sie blieb, ist sie nun Avantgarde geworden. „Das neue Kreuzberg ist sehr viel vielfältiger als andere Bezirke." Mit der aktuellen Berliner Musikszene hätten die Veranstalter des „Festivals Musik und Politik" wenig zu tun, sagt Christiane Rösinger. Man könne kaum erwarten, dass es eine neue Bewegung bündele. Falls im Zusammenspiel von Politik und Musik wieder etwas entstünde, dann eher im Umfeld der linken Zeitung „Jungle World" oder eines Plattenlabels wie Kitty Yo.

„Ich glaube, dass sich jetzt viel ändern wird", sagt Gert Möbius. Der drohende Militärschlag gegen den Irak und auch schon der Kosovo-Krieg habe die Leute geweckt – und ihren Sinn für Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit. Wie damals, als es gegen den Vietnam-Krieg ging. „Ob im Theater oder in der Musik, überall wird das jetzt eingebaut." Auch deswegen interessierten sich die Leute wohl wieder für die Protestformen der 60er und 70er Jahre. Und die Lieder Rio Reisers, die, wie sein Bruder stolz erzählt, von jungen Punkbands nachgespielt würden.

Bis heute verkaufe sich „Keine Macht für niemand" am besten, meint Möbius, und zieht das angegilbte Pappcover aus einem Glasschrank. In einer anderen Vitrine hat Möbius den Schlapphut seines Bruders drapiert, alte Fotografien und eine goldene American-Express-Karte. „Ralph Moebius" steht darauf. Nebenan digitalisieren Mitarbeiter alte Aufnahmen Rio Reisers. „Ich vermisse die alte Zeit nicht", murmelt Gert Möbius und blättert in Konzertpostern der Scherben. „Es kommt ja immer etwas Neues."

Das „Festival Musik und Politik" im ZwiEt in der Danziger Straße 101 läuft bis Sonntag, Tel. 42 80 72 94. Gert Möbius diskutiert heute mit dem Konzertveranstalter Fritz Rau, der Liedermacherin Barbara Thalheim und anderen um 15 Uhr in der WABE, Danziger Straße 101. Das Rio Reiser Archiv befindet sich in der Drakestr. 47.

Tobias Rüther

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