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Berlin: Robert Ferchow (Geb. 1982)

Keine Flammen auf den Rollstuhl! Flammen haben alle.

Roberts Vorlieben unterschieden sich nicht von denen vieler anderer junger Männer. Er mochte Computerspiele, er mochte Mädchen, er trug einen kleinen Kinnbart. Sein Körper aber fiel auf. Von Anfang an.

Er konnte laufen, jedoch nicht so flink wie die anderen Kinder. Er konnte sprechen, jedoch nicht so klar wie die anderen Kinder. Er konnte greifen, jedoch nicht so mühelos wie die anderen Kinder. „Er gehört nicht zu uns“, schlossen die anderen Kinder daraus und spielten ihre Spiele ohne Robert. „Ich gehöre nicht zu ihnen“, schloss Robert daraus und ließ sich nicht die Laune verderben.

Warum davonrennenden Kindern hinterhertrauern, wenn man von so viel Wunderbarem umgeben ist? Da gab es zum Beispiel den Hund der Nachbarin. Die kleine Schwester. Die einfachen Melodien der Kinderlieder. Die Wipfel der Berge, über die seine Eltern ihn im Urlaub trugen wie einen Prinzen.

Zwölf Jahre war Robert alt, als die Funktionsweise seines Körpers einen Namen bekam: Ataxia Teleangiectasia, ein seltenes Syndrom. Die Lebenserwartung, so erläuterten die Ärzte, liege bei etwa 20 Jahren. Ansonsten wäre Robert stark infektanfällig und habe ein hohes Krebsrisiko.

Robert zeigte sich von diesen Aussichten wenig beeindruckt. Ihn interessierten technische Geräte und exotische Früchte. Er fragte nicht: „Warum bin ich mit diesem Körper gestraft?“ Er fragte: „Hast du mir eine Kiwano gekauft?“ Da zog die Mutter los und fragte an jedem Obststand nach Kiwano. Und beschloss, dass es ein Recht auf Unwissen gibt. Ihr Kind sollte nicht mehrmals im Jahr auf Krebs untersucht werden. Die Unbeschwertheit war Roberts kostbarstes Gut, und das galt es zu schützen. Im selben Jahr bekam Robert, der immer hinfälliger wurde, einen Rollstuhl.

Er freute sich darüber, endlich hatte das anstrengende Beine-Voreinander-Setzen ein Ende. Doch als die Mutter ihm empfahl, den von den Berufsbildungswerken angebotenen „Ausbildungsplatz zur Bürokraft“ anzunehmen, wurde der sonst so Genügsame ärgerlich. Nur weil man einen eigenwilligeren Körper als andere hat, muss man den ja nicht hinter einem Schreibtisch verstauben lassen! Robert wollte Videokünstler werden. Wie aber soll einer, der nicht einmal ein Saftglas halten kann, eine Kamera führen? „Bürokraft werde ich trotzdem nicht“, murrte er. „Erst ausprobieren, dann urteilen“, flehte die Mutter. „Aber nur ein paar Tage.“ Aus den Tagen wurden drei Jahre, und nach den drei Jahren wurde er von den „Mosaik-Werkstätten“ übernommen.

Die Werkstätten hatten 46 Außenstellen und beschäftigten über 1500 Mitarbeiter. Robert war der Mann für die Datenerfassung. Dank einer Spezialtastatur konnte er den Computer genauso gut bedienen wie Menschen mit treffsichereren Fingerspitzen. Mit den Programmen umzugehen, machte ihm Spaß. Aus Kollegen wurden Freunde, die Arbeitsgruppenleiter lobten ihn, er verdiente eigenes Geld. Was wollte er mehr?

Nur eins: Allein wohnen. Er probierte es zunächst in einer betreuten WG. Doch gab es da Mitbewohner, die an ihrem Schicksal schwerer trugen als Robert. Als seine Schläfe von einem Stuhl getroffen wurde, den einer in rasender Wut durch die Gegend geschleudert hatte, beschloss Robert, von nun an ganz allein zu wohnen.

Das löste bei seiner Mutter eine Flut von Was-wenn-Fragen aus. „Was, wenn Robert aus dem Rollstuhl fällt und keiner ist da?“ Doch sie erinnerte sich an ihr stilles Versprechen, dem Sohn seinen Lebensmut nicht zu nehmen. Als Robert erklärte, dass er nun in den 6. Stock dieses bunten Hochhauses in der Storkower Straße einziehen werde, nickte sie ihm zu.

Es gab ja den Pflegedienst, der morgens und abends vorbeikam. Und es gab Markus, den Einzelfallhelfer.

Eineinhalb Jahre lang regierte Robert in dem bunten Hochhaus sein eigenes Reich. Er lud seine Freunde ein. Santiago, ein ehemaliger Betreuer, von dem Robert die Liebe zu allem, was sonnig und irgendwie spanisch war, gelernt hatte. Raul, den Spastiker, der seinen Rollstuhl ebenso schlecht geradeaus steuern konnte wie Robert. Mit dem er immer hart am Bordstein entlang zum Alexanderplatz rollte, wo sie bei Saturn die neueste Technik bestaunten. Melanie, die er noch aus Schulzeiten kannte. Mit der er sich während der WM durch die Fanmeile wühlte, er im Rollstuhl, sie mit Beinprothese. Frohnaturen wie er selbst.

Robert litt nicht verstärkt an Infekten. Das 20. Lebensjahr hatte er schon um acht Jahre überschritten. Die Ärzte mit ihren düsteren Prognosen schienen sich geirrt zu haben. Dann eine Erkältung, die sich als Leukämie entpuppte. Innerhalb von zwei Wochen wurde Robert todkrank. Umso eifriger redete er von seinen Plänen. Er wollte mit Santiago nach Sevilla. Er wollte seinen Rollstuhl mit Airbrush verzieren lassen. Aber keine Flammen! Flammen haben alle.

Als er sah, dass Krankheit und Tod ihn nicht mehr losließen, wurde er wütend. Nichts konnte man ihm mehr recht machen. „Er starb“, sagt seine Mutter, „unter Protest.“ Anne Jelena Schulte

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