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Berlin: Roberto Corrêa da Costa (Geb. 1947)

Die Sehnsucht nach der milden Sonne des Nordens.

Es muss etwas Schreckliches geschehen sein. Eine Umweltkatastrophe. Tote braune Blätter liegen unter kahlen Bäumen.

Der Liebe wegen steht Roberto, jung, schön, braun gebrannt, mitten im frostigen Frankfurt. Schnee, ja, dieser kalte pulvrige Stoff, davon hat er gehört, aber nicht, dass die Blätter im Winter von den Bäumen fallen. Zu Hause in Brasilien, in Cuiabá, bleibt es immer grün.

Also Deutschland, Frankfurt, Berlin, Anfang der Siebziger. Manchmal, wenn sein Touristenvisum abgelaufen ist, fliegt er nach Portugal, dann wieder zurück. Der junge schöne Latino, umschwärmt und begehrt von Männern und Frauen. Das Leben, süß und mühelos. Doch eines Morgens wacht er auf, jäh, unter seinem Fenster die Straßenbahnen, Autos, Passanten auf dem Weg zur Arbeit. Er weiß, er muss etwas tun. Kauft sich ein Flugticket zurück, in das heiße, feuchte, immergrüne Südamerika, in seinem Koffer eine Schallplatte von Hildegard Knef.

In Brasilien beginnt er eine Ausbildung zum Flugbegleiter, hört jeden Abend dieses eine Lied, „Ich hasse die sengende Sonne des Südens“, jeden Abend wird die Sehnsucht schmerzlicher. Die Sehnsucht nach der milden Sonne des Nordens.

Er bricht die Ausbildung ab. Fliegt nach Berlin.

Das Leben ist mühseliger. Hunderte, tausende Kartoffeln schält Roberto am Flughafen. Sein Deutsch formt sich langsam. Und eines Tages schaut er aus dem Fenster: Samtige weiße Teilchen schweben zur Erde. Roberto rennt auf die Straße, hebt das Gesicht zum Himmel, die Hände: Die Flocken berühren seine Haut. Das ist er also: Schnee.

Roberto entschließt sich, Hotelkaufmann zu lernen, arbeitet bis zu Beginn der Neunziger als Barchef am eleganten Schweizerhof im Schichtbetrieb. Kommt oft erst in der Dämmerung nach Hause. Geht viel aus, am Abend, in den Nächten, in Kreuzberg, in Schöneberg. Verliebt sich. Entliebt sich. Telefoniert jeden Sonntag mit seiner Mutter. Feiert Weihnachten in der Familie eines deutschen Freundes. Fliegt einmal im Jahr nach Brasilien, bleibt dort den ganzen Januar und Februar, trifft alle Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Fährt nach Rio. Schiebt und schubst sich 2006 mit über einer Million Menschen an der Copacabana. Die Rolling Stones geben ein kostenloses Konzert. Roberto steht 100 Meter vor der Bühne. Nah dran, Mick Jagger ist zu erkennen. Und erzählt, wie er in den Sechzigern am Strand lag, in die Sonne blinzelte, den Kopf zur Seite wandte und Janis Joplin mit ihrer Entourage entdeckte, nur wenige Schritte entfernt.

Vom Schweizerhof wechselt Roberto zum BKA-Theater, leitet dort bis 1998 die Bar. Arbeitet im Anschluss im Theater „Hans Wurst Nachfahren“ an der Bar, als Kassierer, als Mädchen für alles. Sein Deutsch ist ausgezeichnet. Und er fragt sich: Ich lebe hier seit Jahrzehnten. Wäre es nicht an der Zeit, Deutscher zu werden? Seinen brasilianischen Pass muss er abgeben.

Das Leben ist gut. Eine kleine Schwäche Anfang 2009, hin und wieder ein schwindliges Gefühl, nichts Beunruhigendes, das Alter eben. Ein Freund drängt ihn, lass dich untersuchen, man weiß nie. Roberto willigt ein, wird ins Krankenhaus eingewiesen, die Ärzte suchen und suchen. Vermuten, es könnte etwas mit der Herzklappe sein. Finden jedoch nichts. Besteht Lebensgefahr?, fragt Roberto. Nein, ausgeschlossen, antworten die Ärzte. Roberto füllt das Papier für die Briefwahl zur Bundestagswahl am 27. September aus. Am 26. September stirbt er. Seine Stimme zählt. Tatjana Wulfert

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