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Berlin: "Roberts Reise" - Ein Quantensprung in die Kunst

Michael Schindhelm hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Vor gut einem Jahrzehnt saß er als soeben in der Sowjetunion diplomierter Quantenchemiker noch am südöstlichen Stadtrand Berlins im Institut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Michael Schindhelm hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Vor gut einem Jahrzehnt saß er als soeben in der Sowjetunion diplomierter Quantenchemiker noch am südöstlichen Stadtrand Berlins im Institut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Nebenan exerzierte das "Wachbataillon Felix Dzershinsky", jene Elitetruppe, die Honecker beschützen und Gäste des gerade untergehenden Staats empfangen durfte. Schindhelm war Ende zwanzig und teilte das triste Büro in Berlin-Adlershorst mit einer kaum älteren Chemikerin namens Angela Merkel. Auch sie ahnte noch nichts vom eigenen Quantensprung. Bald wurde sie Bundesministerin - und Michael Schindhelm plötzlich Schauspielintendant: erst in Gera, dann in Nordhausen und Altenburg. Gewiss nicht der Theaterolymp.

Und manch anderer wäre da vielleicht bei Lebzeiten begraben geblieben. Aber 1996 wechselte Schindhelm nicht etwa nach Kiel oder Dortmund. Der in Eisenach geborene Naturwissenschaftler übernahm mit 35 Jahren die Leitung der Basler Oper und des Basler Schauspiels, des größten Theaters der Schweiz. Mit wachsendem Erfolg: Beim Berliner Theatertreffen ist sein Haus schon fast Dauergast, und zum "Theater des Jahres" wurde es 1999 auch gewählt. Dabei kennt man Schindhelm nur als Geist hinter den Kulissen - oder als Publizisten. Kluge Aufsätze, über den Kulturbetrieb ausgreifende Reflexionen hat er in der "Zeit", in "Theater heute" und im Tagesspiegel geschrieben. Nun debütiert er auch als Buchautor.

"Roberts Reise" heißt das "Roman" genannte Werk. Doch ist es nichts anderes als Schindhelms eigener Lebensbericht. Die Ich-Erzählung probiert zwar das Gewand des bürgerlichen Bildungsromans, aber das sind Kleider, in die der Autor, seine Geschichte und die hier erzählte Zeit nicht passen. Das Buch ist der Versuch einer Selbstvergewisserung: angesichts eines durch Erleben und zeitgeschichtliche Erfahrung zerspaltenen Lebens. Vielleicht hatte Schindhelm, der heute sein Buch in der Berliner Volksbühne präsentiert, Hemmungen, mit kaum 40 schon eine Autobiografie vorzulegen; vielleicht wollte er nicht mittanzen im Reigen jener Golf- und Berlin-Generation, deren Angehörige bereits als späte Twens an ihren Memoiren feilen, obwohl sie noch nicht mehr zu erinnern haben als die relative Ereignis- und Harmlosigkeit ihres Lebens.

Schindhelm hat dagegen etwas zu erinnern. Und er hätte gewiss mehr zu erzählen, als "Roberts Reise" über eine außergewöhnliche Biografie mittteilt. Zuerst hatte das Buch wohl "Entzweite Zeit" heißen sollen. Klang das zu prätentiös? Es hätte Schindhelms Erfahrungsessenz jedenfalls genauer getroffen: seine Unbehaustheit in der DDR und die Fremdheit im deutschen Westen, im wiedervereinigten Land. So gleicht sein Aufstieg und Weggang in die Schweiz, in dieses eigensinnig eigenartige, teildeutsche und zugleich multinationale Land, auch einer Art Übersprunghandlung. Schindhelms Stärken sind im Buch die reflexiven, die melancholisch-ironischen Passagen. Beispielsweise Adlershorst, die Naturwissenschaft in einem naturwissenschaftsgläubigen System, das sich zugleich immer absurder und anachronistischer in seinen Selbstwidersprüchen verstrickte und dessen Führung stolz war auf den weltgrößten Mikrochip. Schindhelm über Roberts und Renates (Angela Merkels) Welt am Rande: "Unsere Abteilung genoss den Vorteil, Grundlagenforschung zu betreiben. Das sozialistische Plansoll verlor sich im imaginären Reich unabsehbarer Visionen und Perspektiven. Wer wie wir mit Lochkarten und ohne Telefonanschluß für die Welt von übermorgen wirkte, bekam den Druck der materiell-technischen Basis nicht zu spüren."

Dem hier naheliegenden autobiografischen Essay hat Schindhelm womöglich aus Selbstbescheidung nicht getraut. In der scheinfiktiven Ich-Erzählung aber wirkt die Selbstinszenierung vertrackterweise nur eitler, narzistischer. Viel Naturkulisse, nahe einem frisch erworbenen Haus überm Comer See - und auf dem Berg "das Gamelan-Geläut der Kühe legt sich mir zu Füßen". Oder gedankliche Heimsuchungen: "Eumeniden zerren Erfahrungsmüll aus den Zwischenlagerstätten meiner Hirnrinde." Manch Gespreiztes kommt da zum Vorschein, Formulierungen fallen ins Bürokratendeutsch ("das Auftreiben und Einnehmen von Lebensmitteln"), Liebschaften geraten zur eitel-undeutlichen Aufzählung, dagegen lassen fünf Jahre Chemiestudium im sowjetischen Woronesch, in ökölogisch und mental vergifteter Ödnis, ein gespenstisches, frühes und wenig freiwilliges Lebensabenteuer ahnen. Doch über den Weg zum Theater, über die Wendung von der Chemie zur Kunst erfahren wir fast nichts. Da liegt noch ein Stoff. Für den Essayisten, nicht den Romancier. Denn seine Geschichte hat schon die Wirklichkeit erfunden.Michael Schindhelm: Roberts Reise. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000, 315 Seiten, 39,80 DM. - Buchvorstellung heute in der Berliner Volksbühne, Roter Salon (Einführung Sigrid Löffler), 20 Uhr.

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