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Berlin: Rolf Lüpges (Geb. 1952)

"Vielleicht haben Sie noch ein paar schöne Jahre"

Hannelores erster Gedanke, als der Polizist ihr sagt, dass ihr Mann vom Hochhaus gesprungen ist: „Endlich hast du es geschafft“. Ihr erstes Gefühl: die Scham, so etwas zu denken. Doch jetzt, gut drei Monate später, sagt sie ein klares „Ist doch wahr“, und es klingt nicht trotzig.

Also: Rolf Lüpges hat fünf Mal vergeblich und einmal erfolgreich versucht, sich das Leben zu nehmen. Hannelore Lwowsky-Lüpges findet, dass man ruhig „erfolgreich“ sagen kann. Weil es nämlich keine Schande ist und kein Geheimnis, weil es keine Tragödie ist und vielleicht noch nicht einmal ein Unglück. Denn Rolf Lüpges wollte wirklich endlich sterben.

Aber traurig ist es schon.

Hannelore hilft sich mit der Erinnerung an ihre Liebe. Nachts um ein Uhr mailt sie noch: „Was ich aber auch noch unbedingt sagen möchte, dass bis zum letzten Tag auch ganz viel Zärtlichkeit zwischen uns war. Wir haben immer die Berührung des anderen gesucht. Saßen im Kino, im Theater und auch abends vor dem Fernseher immer Hand in Hand. Er fehlt mir sehr! So, nun kann ich hoffentlich beruhigt einschlafen.“

Was auch hilft gegen die Trauer: Dass er ein Leben vor dem Tod hatte, und dass dieser Tod an diesem Leben nichts ändert.

„Schöne Kindheit mit vielen Geschwistern“ hat Rolf aufgeschrieben, und: „materielle Not“, „spielen mit anderen Kindern in Trümmerstücken“. Die Eltern lassen sich scheiden. „Von meiner Mutter hörte ich häufig, wenn ich etwas nicht zu ihrer Zufriedenheit machte, den Vorwurf: Du wirst noch wie dein Vater!“

Er macht eine Lehre zum Motorenbauer, holt das Abitur nach und wird Lehrer an einer Hauptschule in Duisburg, dann an einer Aachener Gesamtschule. Er ist Lehrer mit ganzem Herzen, und das schätzen auch Schüler und Kollegen. Bis zu seinem Tod lassen sie den Kontakt zu ihm nicht abreißen. 1997 lernen sich Hannelore und Rolf kennen, es kommen verliebte Jahre. 2003 heiraten sie, bald darauf zieht er zu ihr nach Berlin.

Doch schon länger fühlt sich Rolf immer unwohler, geht zu Ärzten. Die diagnostizieren eine Depression, später Blasenkrebs. Dagegen kann ihm geholfen werden, nicht aber gegen Trauer und Antriebslosigkeit.

Jahre vergehen, bis ein Arzt erkennt: Es ist Chorea Huntington, früher auch „Veitstanz“ genannt, eine Erbkrankheit, die 0,005 Prozent der Menschen befällt und tödlich endet. Typische Begleiterscheinung sind Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit.

Rolf kämpft. Nach einem Klinikaufenthalt sagt eine Ärztin zu Hannelore: „Sie bekommen einen kranken Mann zurück, aber vielleicht haben Sie noch ein paar schöne Jahre.“ So kommt es. Sie machen es sich schön. Doch die Krankheit verläuft in Schüben, und sie schreitet fort. Rolf verzweifelt. Er hat sie ja erlebt, die anderen Patienten. Ihre unartikulierten Laute, ihr Zucken, ihre Panik scheinen ihm wie ein Blick in seine nahe Zukunft. Sein Wunsch zu sterben wird zum Willen, der Tod scheint ihm eine letzte Behauptung seiner Autonomie.

Er schneidet sich die Pulsadern auf, doch Hannelore findet ihn. Nachts löst er Geschirrspülmittel in Wasser und will trinken, doch sie reißt ihm das Glas aus der Hand. Er versucht es mit Medikamenten, aber es klappt nicht. Er will sich mit einem Gürtel strangulieren, doch die Pflegerin geht rechtzeitig dazwischen. Er will von einer Brüstung springen, ist aber zu schwach, um über die Balustrade zu kommen. Schließlich springt er von einem Hochhaus.

Rolf schreibt in einem Brief an Hannelore: „In den fast zehn Jahren, die wir gemeinsam viel erlebt haben, habe ich Dich nie so geliebt wie heute. Leider hast Du in mir einen schrecklichen Fehlgriff getan. Du hast mit den Männern kein Glück. Auch mit mir nicht. Lebwohl! Dein Rolf.“

Sie weiß: Das stimmt nicht. Es ist die Krankheit, die aus ihm spricht, und die Angst davor, was sie aus ihm machen wird. Sie weiß: Sie hatten Glück miteinander. Und sie ahnt: „Eventuell hat er es zu einem kleinen Teil auch für mich getan, als letzten Liebesdienst.“ Andreas Unger

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