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Wettfahrt im Tiefbahnhof am Potsdamer Platz. An anderen Stellen ist die Fahrt mit dem Rollstuhl schon deutlich mühsamer.

© Thilo Rückeis

Rollstuhlfahren oder blind sein im Selbstversuch: Behindert in Berlin - für ein paar Stunden

Der Weg zur Inklusion kann schon an wenigen Zentimetern scheitern. Am besten, man probiert es selbst einmal aus – unterwegs im Rollstuhl oder blind mit Taststock.

Bumm! Nach wenigen Metern steckt die Karawane auf ihrem Weg zum Potsdamer Platz fest. Die Sehbehinderten lupfen ihre trüben Brillen, um nachzuschauen, was bei den Rollstuhlfahrern gerummst hat. Drei von vieren sind soeben am Bordstein der Voßstraße gescheitert. Der ist zwar an der Fußgängerfurt neben der Ebertstraße korrekt abgesenkt, aber selbst die zwei Zentimeter Kantenhöhe sind einer zu viel für die Neulinge in den Rollstühlen mit ihren kleinen, hartgummibereiften Vorderrädern.

[Was ist mit barrierefreien BVG-Bushaltestellen? Berlins erste Bushaltestelle, wo Rollstuhlfahrer ohne fremde Hilfe in den Bus kommen, wurde 2020 in Spandau eröffnet - hier die Details zum Umbau und zur berlinweiten Lage. Alle Tagesspiegel-Newsletter, Bezirk für Bezirk, kostenlos und in voller Länge unter leute.tagesspiegel.de]

Ein abbiegender Lieferwagen braust um die Rollis herum, weitere Autos drängen nach. Nur die blinde Ausflüglerin bekommt hinter ihrer schwarzen Augenmaske von dem Stress nichts mit. In Schlangenlinien irrt sie über den Gehweg und hat die Querstraße noch längst nicht erreicht. Und wenn, dann wird sie froh sein über diese Bordsteinkante, die ihr Orientierung im ewigen Dunkel gibt.

Die meisten in der Gruppe haben sich ihre Behinderung nur für diesen Ausflug am Montagmittag zugelegt: Sie hatten sich für die Tour angemeldet, die das „Institut für kreative Nachhaltigkeit“ mit ehrenamtlichen Partnern und der Repräsentanz des Medizintechnikherstellers Otto Bock veranstaltet. Die Plätze hatte der Tagesspiegel in seiner Schwerpunktausgabe zur Inklusion am 3. Dezember angeboten.

„Sie müssen nicht die ganze Zeit im Rollstuhl sitzen“, hatte Mitorganisatorin Larisa Tsvetkova zuvor in die Runde gesagt. „Wenn Sie merken, es macht keinen Spaß mehr, tauschen Sie einfach mit jemandem.“ Also Rolli gegen Maske oder gegen eine dieser Brillen, die Augenkrankheiten simulieren. „Grauer Star“ ist wie der Blick durch eine Reifschicht. Das Modell „Diabetische Retinopathie“ ähnelt – zumindest im hier simulierten Stadium – einer beschlagenen Scheibe, deren Rand noch halbwegs transparent ist. Und zur schwarzen Augenmaske gibt es nicht nur den Stock, sondern auch eine Einzelbetreuerin dazu. Schön, wenn man sich seine Behinderung aussuchen kann.

Für Christoph Pisarz trifft das nicht zu; er sitzt auch sonst im Rollstuhl. Er ist im Verein „Pfeffersport“ aktiv und heute als Experte dabei. „Hände auf zwei Uhr und mit Schwung nach vorn, dann kommen die Vorderräder von selbst hoch“, erklärt er den Trick mit der Kante. Der wird jenseits der Kreuzung vor dem Bahn-Tower gleich noch mal gebraucht: Die Kabeltrassen des Weihnachtsmarktes sind anders nicht zu schaffen. Eine zweite Schwelle dieser Art lässt sich mit einem Umweg umfahren. Solche Extratouren seien oft notwendig, sagt Pisarz und spricht damit ein Problem an, das viele Rollstuhlfahrer plagt: Ein maroder Gehweg oder ein Bordstein können viel Zeit und Kraft kosten. Und ein kaputter Aufzug kann bedeuten, eine Station weiterfahren und ein Taxi nehmen zu müssen. Wie real das Problem ist, zeigt ein Blick ins Internet: Die S-Bahn meldete am Montag acht, die BVG sechs kaputte Aufzüge.

Sackgassen, die vor Treppen enden

Endlich ist der Fahrstuhl zum Tiefbahnhof erreicht. Die Probanden wollen in die Arkaden, der Lift bietet die Auswahl 0, –1 und –2. Könnte man auch sinnvoller beschriften, sagt Pisarz auf dem Weg zur Mittelebene. Die bietet Platz für eine kleine Wettfahrt, die der Routinier natürlich gewinnt. Dann geht es bergauf ins Einkaufszentrum. Während die anderen gegen die leichte Steigung kämpfen, erzählt Pisarz von Touren mit Schülern, auf denen auch mal in Sackgassen gerollert werde, die vor Treppen enden. Dort stehe man dann und müsse wildfremde Leute bitten, einen zu tragen. Man höre von Rückenproblemen und von Zeitnot – und steht und wartet und bettelt.

Kabeltrassen für den Weihnachtsmarkt - für Rollstuhlfahrer ein Hindernis.
Kabeltrassen für den Weihnachtsmarkt - für Rollstuhlfahrer ein Hindernis.

© Thilo Rückeis

Während Pisarz erzählt, drängeln sich Passanten vorbei. „Wir rücken mal zusammen“, sagt Pisarz. „Als Rollstuhlfahrer steht man eigentlich immer im Weg.“ Man wirkt kleiner als die meisten Mitmenschen und ist breiter. Eine unpraktische Kombination im Gedränge. Und oft auch eine unwürdige: „Meistens redet man ja gegen eine Glasscheibe“, sagt der kräftige Mann mit dem Lockenkopf und deutet auf die Imbissstände ringsum. Absurd hoch wirken deren Tresen aus Rollstuhlperspektive. Auch deshalb gibt es die Touren nicht nur für interessierte Laien und für Schülergruppen, sondern auch für Fachleute. Inklusion ist Menschenrecht. Aber recht zu haben und recht zu bekommen, ist eben zweierlei.

Weitere Touren am 18.1. und 14.2. für 15 Euro pro Person. Infos: www.id22.net. Eintritt ins Otto-Bock-Science-Center (Ebertstr. 15a) frei, Do–So 10–18 Uhr

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